Süddeutsche Zeitung

DFB-Elf:Fahrlässigkeiten im Strafraum

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Vergibt die DFB-Elf auch im Achtelfinale so viele Chancen wie gegen Nordirland, könnte sich das rächen.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

Natürlich könnte man jetzt behaupten: Gut, dass Jérôme Boateng den Chef rausgekehrt hat. Gut, dass er nach dem Nullnull gegen Polen mit leiser Stimme jene lauten Worte gefunden hatte, die dem Weltmeister endlich gezeigt haben, wo das Tor steht. Dabei haben ihm seine Vorderleute streng genommen auch beim 1:0 gegen Nordirland den Befehl verweigert. Hatte doch der Abwehrchef gefordert, die Offensiven mögen mal den Mut finden, in Eins-zu-eins-Situationen einzusteigen. Ins direkte Dribbling, Mann gegen Mann, so wie der unvergessene Stan Libuda. Dem Flügelflitzer huldigten die Schalker ehedem mit der ins Blasphemische lappenden Formel: "An Jesus kommt keiner vorbei ... - außer Stan Libuda."

Dort aber, wo einst Libuda die Prominenz austrickste, spielte in Paris Joshua Kimmich. Dort, wo Libuda in seinen immerhin 26 Länderspielen zu unwiderstehlichen Slalomläufen aufbrach, schlug Kimmich jetzt einige feine Flanken (zum Beispiel zum Pfosten-Kopfball von Thomas Müller). Genau genommen aber ignorierte auch er den Boateng-Befehl. Eins-gegen-eins? Mann gegen Mann? Von wegen, Kimmich fügte sich bei seiner Turnier-Premiere ein ins Schema des Germanen-Tika-Taka; in diese Löw'sche Variante der spanischen Kombinationsschule. Hochwertiges Ballgeschiebe bis der Arzt kommt, weil der Gegner von Schwindelanfällen geplagt in sich zusammenbrechen soll.

Am Sonntag können derartige Fahrlässigkeiten im Strafraum den Knock-out bedeuten

Die deutsche Offensive, auf die ob fehlender Zielstrebigkeit gegen die Polen ein Sommergewitter niedergegangen war, blieb auch mit zwei Neuen (Kimmich, Gomez) ihrer alten Linie treu. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Die "Kombinationsmaschine", wie Löw seine Auswahl nennt, arbeitete sich schon bis zur Pause eine Inflation bester Torchancen heraus wie seit dem 7:1 in Brasilien nicht mehr. Weshalb sie sich nun mit einem neuen Vorwurf befassen muss: Warum wurden all die herrlichen Gelegenheiten nicht genutzt?

Die Testphase des Turniers ist fast vorbei, im Achtelfinale am Sonntag in Lille können derartige Fahrlässigkeiten im Strafraum den Knock-out bedeuten. Worin dann der Fortschritt lag in diesem Spiel? Vielleicht in dieser einen Zahl: Zuvor hatte der als Torjäger angereiste Thomas Müller in zwei Spielen keine einzige klare Chance - gegen Nordirland hatte er bereits vor der Halbzeit: vier.

Und zu jener Zeit, als Libuda die Flanken schlug, ließ der andere Müller, der Gerd, ja auch nicht ewig auf sich warten.

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Quelle:
SZ vom 22.06.2016
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