DFB-Elf:Bester Özil seit dem Affenkäfig an der Olgastraße

Das sportliche Karrierehoch von Mesut Özil hat mit einem neuen Rollenverständnis zu tun: Er ist nicht mehr bloß genialer Vorlagengeber, sondern auch Schwerarbeiter.

Von Philipp Selldorf, Hamburg

Am Samstagabend kurz vor Mitternacht musste sich Mesut Özil im Volksparkstadion einer heiklen Frage stellen. Sie lautete, ob die Welt zurzeit den besten Mesut Özil seit dessen Anfängen als Fußballer im Affenkäfig an der Olgastraße in Gelsenkirchen-Bulmke erlebe. Was sollte der Befragte darauf schon sagen? Ein Ja wäre ein Eigenlob gewesen, ein Nein die Unwahrheit. Also lächelte Özil und erwiderte: "Wenn Sie das meinen, dann kann ich nur sagen: Danke."

Die Komplimente an Özil und sein Spiel häuften sich zuletzt in verdächtiger Zahl, so viel lässt sich festhalten. Wenn er Gründe für sein Karrierehoch nennen soll, dann fällt ihm dazu dieses ein ("bin erfahrener geworden") und jenes ("kann besser mit Rückschlägen umgehen"), aber im Grunde läuft es doch immer aufs Gleiche hinaus. Auch am Samstagabend im Volksparkstadion von Hamburg war das nicht anders. "Es macht mir einfach richtig Spaß zu kicken", resümierte er.

Kicken ist ein schönes Wort für das entrückte Niveau, auf dem sich seine Fußballkunst bewegt. Im WM-Qualifikationsspiel gegen Nordirland am Dienstag wird er voraussichtlich zum 83. Mal für die DFB-Auswahl aufs Feld gehen, kein Mitspieler hat mehr Einsätze. Früher war es üblich, dass der Mann mit den meisten Einsätzen mehr oder weniger automatisch zu den ersten Anwärtern auf das Kapitänsamt gehörte, aber der Name Özil war nirgendwo zu hören, als nach dem Abschied von Bastian Schweinsteiger über dessen Nachfolger debattiert wurde.

Özil trägt in der Nationalelf jetzt die "10" auf dem Rücken - wie einst Zidane und Maradona

Dies ist allerdings nur logisch und vernünftig. Weder strebte Özil nach dieser Rolle, noch wäre jemand auf die Idee gekommen, ihn dorthin zu drängen. Er gehört auch nicht dem Mannschaftsrat an, in dem sich, bisher in friedlicher Koexistenz, die mächtigsten Egos des Nationalteams versammeln. Dafür war es Özil ungemein wichtig, die Nachfolge eines anderen Ruheständlers zu übernehmen. Und so trägt er jetzt - endlich!, so muss man sagen - die Nummer 10 auf dem Rücken, die zuvor in Lukas Podolskis Besitz war.

Sportlich ist Özil der logische Nachfolger. "Legenden wie Zinédine Zidane oder Diego Maradona haben diese Zahl auf dem Rücken getragen, ich bin wirklich glücklich darüber", sagte er. Er meint das ernst. Wenn es demnächst darum geht, beim FC Arsenal seinen Vertrag zu verlängern, dann wird es dabei wohl auch ein wenig ums Geld gehen bzw. um noch mehr Geld. Aber ganz sicher auch um die ihm hochheilige Rückennummer.

Das Genie als Störfaktor

Die Gespräche mit seinem Klub sind im Gange, die Tendenz, so heißt es aus seiner Umgebung, sei positiv. Der Vertrag läuft zwar noch bis 2018, aber Özil ist offenbar bereit, sich auch darüber hinaus zum Londoner Verein zu bekennen, obwohl dieser eher nicht zu den ganz großen Titelsammlern zählt. Der 27-Jährige fühlt sich jedoch beim FC Arsenal und bei Trainer Arsene Wenger ähnlich gut aufgehoben wie beim FC Deutschland und Jogi Löw, seinem Vertrauenslehrer in guten wie in schlechten Zeiten.

Letztere verblassen allmählich in der Erinnerung. Spätestens seit der vorigen Saison ist Mesut Özil dazu übergegangen, gute bis sehr gute Leistungen verlässlich zu reproduzieren. In London fand die Steigerung seines Standardniveaus schnell Beachtung, in der Heimat dauerte es ein wenig. Dort hatten viele noch die hängenden Schultern vor Augen, die er spazieren führte, wenn er den Anschluss ans Spiel verloren hatte. Was ja häufig vorkam. Bei der Europameisterschaft gewannen seine Landsleute ein anderes Bild, nicht zuletzt, weil er im Viertelfinale gegen Italien und im Halbfinale gegen Frankreich auch dann noch zu sehen war, als es hart und mühsam wurde.

Die Rheinische Post fand nach dem 3:0 gegen Tschechien, Özil habe sich "mit der Leichtigkeit, die nur den Großen gegeben ist", zwischen den gegnerischen Linien bewegt. Dass zu seinem Rollenverständnis als Spielmacher in der offensiven Mitte auch die schwere Arbeit gehört, sogar mehr noch: auch die schwere Defensivarbeit, das widerspricht der These von der genialen Leichtigkeit nicht. Das immer wieder zur Passivität neigende Genie engagiert sich jetzt nicht nur in seinen Lieblingsbeschäftigungen als Pass-Spieler und Vorlagengeber, sondern auch als ständiger Störfaktor für den Gegner.

Erkundigungen nach den Gründen von Özils Aufschwung lösen in dessen Umfeld angestrengte Erklärungsversuche aus. Weil es offenbar so viele Gründe gibt. Von verändertem Training und mehr Disziplin im Alltag ist die Rede, von grünem Tee, Fischgerichten und anderen neuen Ernährungsweisen, die zwei Kilo Gewicht einsparten - nicht wenig für so einen schmächtigen Menschen. Alles in allem, so heißt es, habe er sich emanzipiert von früheren Abhängigkeiten und sei in London viel selbständiger geworden. Neulich hat er sich dort vor Kameras begeben und fließend Englisch gesprochen, dazu fehlten ihm vormals oft der Mut und der Wille.

Am kommenden Samstag wird Mesut Özil 28 Jahre alt, das lässt auf Gutes hoffen: Das beste Spielmacheralter beginnt damit gerade erst.

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