Wenn eine Woche vor dem Gipfeltreffen der Bundesliga bekannt wird, dass der FC Bayern Kontakt zu Emre Can aufgenommen hatte, um einen möglichen Transfer nach München auszuloten - wer glaubt da noch an Zufall? Und wer glaubt nicht an subversive psychologische Tricks? Can, einer der Anführer des Dortmunder Höhenflugs und ein ehrlicher Mann, hat den Kontakt im Gespräch mit Sport 1 bestätigt. Er habe "mit dem Trainer telefoniert".
Fairerweise ist allerdings anzumerken, dass der Bayern-Trainer zum Zeitpunkt des Telefonats Hansi Flick hieß, und dass Can zu jener Zeit nicht für Borussia Dortmund spielte, sondern für Juventus Turin. Hier endet somit die Geschichte von der Münchner Hinterlist, sie war, pardon, von Anfang ein Märchen.
Eine gewisse Gipfelbrisanz steckt dennoch in dem Fall. Am Tag vor dem Länderspiel gegen Belgien in Köln hat Hansi Flick verraten, dass er für Cans Spielweise nach wie vor ein Faible besitzt, so dass er erwägt, den 29 Jahre alten Dortmunder Mittelfeldspieler ein weiteres Mal in die Startelf zu nehmen - zu Lasten eines prominenten Münchner Konkurrenten. "Stabilität im Spiel und Überzeugung in der Defensive" hätten Vorrang bei den grundlegenden strategischen Erwägungen, betonte der Bundestrainer. Außer einem sehenswerten Auftritt seiner Elf wünscht Flick ausdrücklich auch ein vorzeigbares Resultat gegen den Vierten der Fifa-Weltrangliste, dessen Stärken er vor allem in der Offensive lokalisiert.
Was fördert die Leistung noch um ein paar entscheidende Prozent? Hingabe und Enthusiasmus, also "Mentalität", meint Flick
So unterwandert der Gegensatz zwischen Bayern und Dortmund nun doch noch das Nationalteam, denn Cans Gegenkandidat für den Job neben Joshua Kimmich im Mittelfeld ist Leon Goretzka, 28, der bei einem Einsatz gegen Belgien dasselbe Jubiläum feiern dürfte wie Matthias Ginter. Es wäre sein 50. Länderspiel. Dass Ginter im Abwehrzentrum spielen wird, steht fest. Flick ließ jedoch durchblicken, den grundsätzlich defensiver orientierten Can für die passendere Wahl als Goretzka zu halten, "das ist gerade so in der Überlegung", erklärte er.
Dass ein Dortmunder den Vorzug vor einem Münchner Spieler erhalten könnte, ist aus Sicht stolzer Bayern-Funktionäre schockierend, liegt aber im Trend der Zeit. Nicht nur, weil Borussia Dortmund gerade die Tabelle der Bundesliga anführt, sondern weil das BVB-Team auf dem Weg an die Spitze jene komplementären Tugenden zum Ausdruck gebracht hat, die unter dem Begriff "Mentalität" summiert werden. Vor ein paar Tagen sagte der DFB-Sportchef Rudi Völler, Deutschland habe bei der WM nicht so gut verteidigt und nicht so gut ins Tor getroffen, darüber hinaus hätten aber auch "die paar Prozent Mentalität und Leidenschaft" gefehlt, die Marokko oder Argentinien so stark gemacht hätten. Und was sagte bei der gleichen Veranstaltung Hansi Flick über Emre Can und dessen Vereinskameraden Marius Wolf? "Beide stehen für den BVB. Beide stehen für Mentalität."
Sicherlich muss jetzt nicht direkt eine deutsche Zeiten- und Trendwende ausgerufen werden, andererseits ist es auffallend und vielsagend, dass zuletzt die kritischen Befunde von Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn zum Zustand des Bayern-Teams einen mindestens ähnlichen Tenor hatten wie die WM-Analysen von Völler und Flick.
Wer will es mehr?, das bleibt eine Kernfrage im Team-Sport. Neben den fußballerischen Komponenten könne ein Maximum an Hingabe und Enthusiasmus - alias "Mentalität" - den Leistungsstand des Kollektivs "um drei bis fünf Prozent" heben, meint Flick, "und die sind am Ende entscheidend". Seine Rechnung: Drei Prozent Minus an Überzeugung und Opferbereitschaft in den letzten 20 Minuten des WM-Spiels gegen Japan (1:2) "haben uns das Turnier gekostet".
Mit Can hatte Flick auch vor der WM telefoniert, er suchte noch einen Sechser. Schließlich disponierte er ohne den BVB-Profi (und ohne Sechser). Das sei zwar sehr bitter gewesen, erzählt Can, "aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass ich wenig gespielt habe in der Hinrunde, und auch nicht gut genug war, wenn ich auf dem Platz stand". Besser wurde es im neuen Jahr, als er im BVB-System einen festen Posten im defensiven Mittelfeld beziehen durfte. "Zehn Spiele am Stück auf der Sechs haben mir gut getan", sagt er, sie hätten ihm Rhythmus und Orientierung gebracht, "weil ich weiß, wie ich mich zu bewegen und taktisch zu verhalten habe. Das will ich jetzt auch in der Nationalelf zeigen."
Dass Dortmunder im Nationalteam derzeit ein wenig in sind, dürfte kaum heißen, dass die Bayern-Spieler künftig out sein werden. Den speziellen Wert des bewährten Duetts Kimmich & Goretzka wird Flick nicht bezweifeln. Das Paar Kimmich & Can könnte aber eine Alternative sein und dem deutschen Spiel eine andere Gewichtung geben, im Idealfall sogar das Gleichgewicht zwischen Offensive und Defensive, das gegen bessere Gegner immer wieder vermisst wird. Beim 2:0 gegen Peru in Mainz ist das Experiment passabel angelaufen. "Emre hat es im Training und im Spiel richtig gut gemacht", sagte Flick am Montag. Auch der zweite Mentalitäts-Dortmunder Marius Wolf erhielt ein Lob für den Start in die Nationalelf-Karriere, die Fortsetzung folgt laut Flick am Dienstag: "Jetzt geht´s um Bestätigung." In Köln gegen Belgien - und in München gegen die Bayern.