DFB-Auswahl:Wahnsinnige Vorfreude auf Italien

Bundestrainer Joachim Löw hat enormen Respekt vor der Illusionskunst des italienischen Fußballs, aber keine Angst. Hat die Nationalmannschaft ihr Trauma überwunden?

Von Philipp Selldorf, Évian

Wäre Joachim Löw ein SPD-Politiker, würde man ihn wohl der Toskana-Fraktion zurechnen. Landauf, landab ist er für seinen leidenschaftlichen Konsum von italienischem Espresso bekannt, seine Kennerschaft hat er unter anderem durch die Teilnahme an einer Kaffee-Verkostung vertieft. Die Badische Zeitung berichtete darüber. "Der Kaffee aus Kenia", behauptet er seitdem, "ist der beste." Genuss und Wohlbefinden, das sind zwei Säulen im Leben des Bundestrainers, und Löw mit dem Weißweinglas beim Urlaub auf einem umgebauten Bauernhof in Chianti - das ist keine allzu verwegene Fantasie.

Den italienischen Lebensstil weiß Löw auch im Fußball seit vielen Jahren besonders zu schätzen, er ist ein wahrer Tifoso des Calcio, trotz der vielen Unannehmlichkeiten, die ihm - als neben- wie als hauptverantwortlichen Bundestrainer - die Italiener in all den Jahren bereitet haben: 2006 bei der berühmten 1:4-Testniederlage in Florenz, die Jürgen Klinsmann (und im selben Handstreich wohl auch Löw) fast den Job gekostet hätte; 2006 bei der tränenreichen Niederlage im WM-Halbfinale; vor allem aber beim 1:2 im EM-Halbfinale 2012, das man geradewegs als die Mutter aller Niederlagen in der Ära Löw bezeichnen darf. Dennoch wuchs Löw keine Pinocchio-Nase, als er jetzt in Évian sagte: "Ich freue mich wirklich wahnsinnig auf Italien."

Nicht Schlechtes über die Spanier, nur Gutes über die Italiener

Dass ihm dieses Bekenntnis ernst ist, darf man ihm abnehmen. Es könnte allerdings sein, dass er sich auch deswegen so sehr auf die Italiener freut, weil sie ihm die Spanier vom Hals geschafft haben, aber das bleibt vorerst eine Vermutung. Spanien hat Löw im Laufe seiner Bundestrainerkarriere lang genug als Leitbild gedient, auch in Évian schwärmte er wieder vom hohen Rang der spanischen Kunstrichtung.

Nach dem mitreißenden Vorrunden-Sieg des - nunmehr ehemaligen - Titelträgers gegen die Türkei hat Löw die Auffassung vertreten, dass Spaniens Scheitern bei der WM 2014 nicht auf Qualitätseinbußen, sondern auf dem Zusammenwirken von Zufälligkeiten beruhte. Spanien habe nie aufgehört, zur Weltspitzenklasse zu gehören.

Was sagt er nun? Aus Gründen von Anstand und Ehre nichts Schlechtes über die müden Spanier, dafür umso mehr Lobendes über die neuen Italiener. Denn dieses Italien, so meint Löw, ist ein "viel besseres Italien als 2008, 2010 - und auch 2012".

Unter der Anleitung von Antonio Conte - dem Commissario Tecnico, der schon Juventus Turin wieder zur alten Größe geführt habe - habe Italiens Nationalteam seinen Horizont erweitert. Löw: "Es sind nicht die Italiener, die man kennt, weil sie auch wirklich gut nach vorn spielen." Es seien aber weiterhin auch die alten Italiener, die mit der "vorbildhaften Zweikampfführung", die lieber 0:0 als 3:3 spielten, und "die es verstehen, gut zuzumachen, den Ball auf die Tribüne zu schlagen - und dabei zu lächeln. Das können die Italiener!"

Selbst Rudi Völler war skeptisch

Über den italienischen Fußball kann Löw so dezidiert referieren, als ob er einen Lehrstuhl in der Toskana besetzt hielte. Vor ein paar Jahren hat er die italienische Spielweise als Form der "Illusionskunst" klassifiziert - "sie können sich verstellen wie keine zweite Mannschaft auf der Welt: Sie können auch ein Spiel mal eine Weile verwalten, den Gegner einlullen, ihn glauben lassen, er habe sie im Griff. Aber plötzlich ziehen sie an oder stellen um, und plötzlich schlagen sie zu."

Und tatsächlich haben sie ja auch diesmal die allgemeinen Erwartungen widerlegt. Ohne Stützen wie Marco Verratti, Claudio Marchisio oder Riccardo Montolivo gehe Conte mit einem Not-Kader ins Turnier, so hieß es vor drei Wochen überall. Selbst Rudi Völler, ein immer loyaler Verfechter des Serie-A-Fußballs, war skeptisch. "Die Italiener waren vor dem Turnier irgendwie abgeschrieben - ich habe immer an sie geglaubt", sagt jetzt Löw, "Italien ist auf einem Top-Niveau mit Spielern, die sich schon ewig kennen und sich blind verstehen."

"Wir haben kein Italien-Trauma", stellt Jogi Löw fest

Der große Denker Andrea Pirlo ist aus der Mitte dieser lebenslangen Spielfeld-Bekanntschaften geschieden, doch seinen Verlust habe die Mannschaft "gut verkraftet", findet der Bundestrainer, Contes Squadra habe "Stützen in jedem Mannschaftsteil". Angefangen beim großen Torwart Gigi Buffon und seiner Juventus-Leibgarde, über die Außenpositionen ("großer Drang nach hinten und vorne") und den Mittelfeldmeister Daniele de Rossi ("ein wahnsinnig intelligenter Spieler") bis zum Angriff mit dem schnellen Italo-Brasilianer Eder.

Den Namen Pirlo kann Löw im Übrigen aussprechen, ohne den Doktor konsultieren zu müssen. Die Niederlage von Warschau, die letztlich auf Löws Irrtum gründete, unbedingt die Schlüsselfigur Pirlo aus dem Spiel nehmen zu müssen, ist spätestens seit dem Titelgewinn von Rio Geschichte.

Es gehört zur gelungenen Vergangenheitsbewältigung und zur Altersweisheit des Bundestrainers, dass er problemlos das Wort "verzockt" benutzen kann, wenn er über seinen eigenen Einfluss auf dieses Spiel und über seine Fehler spricht. "Wir haben kein Italien-Trauma", stellt Jogi Löw fest - hoffend, dass er das auch am Samstagabend noch sagen kann.

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