Eine knappe DIN-A4-Seite ist sie lang: die Notiz, die nun wieder Erschütterungen in der Sommermärchen-Affäre auslöst, der ewigen Geschichte um die Fußball-WM 2006 in Deutschland. Schon die Überschrift des Dokuments, extra gefettet, zentriert und unterstrichen, lautet unmissverständlich: "Agenda der schwarzen WM-Kasse". Und ganz am Ende steht dann der entscheidende Satz: "Sicher ist nur", schreibt der Verfasser, "dass damit 2 Jahre nach der Vergabe der WM Geld für das Abstimmungsverhalten geflossen ist."
"Damit"? Gemeint sind jene inzwischen berühmten 6,7 Millionen Euro, die der einstige Adidas-Eigner Robert Louis-Dreyfus im Jahr 2002 den Deutschen vorgestreckt hatte und die 2005 vom WM-Organisationskomitee (OK) via Weltverband Fifa an Louis-Dreyfus zurück flossen. Wofür war das Geld? Für gekaufte Stimmen bei der Vergabe der WM 2006 - zumindest für den Verfasser der brisanten Notiz schien das eine Gewissheit zu sein.
Dabei gibt es in der Affäre keinen Satz, den die deutschen WM-Macher entschlossener vortrugen als diesen: Stimmen wurden nie gekauft! Auch die aktuellen Bosse des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) um Präsident Reinhard Grindel haben, trotz anrüchigster Fakten, stets erklärt, es gebe keine Beweise für einen Stimmenkauf.
Nun erschüttert die Notiz diese Haltung zusätzlich. Nach SZ-Recherchen wurde das Dokument in den Anfangstagen der Affäre im Herbst 2015 angefertigt. Strafermittler sollen es auf dem Laptop des früheren WM- und DFB-Chefstrategen Horst R. Schmidt sichergestellt haben. Wer der Verfasser war, ist unklar; ebenso, wer es noch kannte. Im vergangenen November wurde nach SZ-Informationen jedoch mindestens ein Beschuldigter in dem Strafverfahren, das die Frankfurter Staatsanwaltschaft in der WM-Affäre führt, mit Inhalten der Notiz konfrontiert.
In jedem Fall hat das Dokument eine neue Qualität: eine interne Notiz, augenscheinlich von einer damals beteiligten Person, die über Stimmkäufe keineswegs nur spekuliert - sondern die mit fast beiläufiger Gewissheit festhält, dass "sicher" WM-Voten gekauft worden seien. Schmiergeldempfänger wären dann logischerweise Funktionäre des Weltverbandes Fifa gewesen; allein dessen 24-köpfiger Vorstand hatte ja damals, im Jahr 2000, über den WM-Gastgeber abgestimmt.
Um den Vermerk einordnen zu können, hilft ein Blick zurück in jenen Herbst 2015
Auf eine Anfrage bei Horst R. Schmidt zu der gefundenen Notiz teilten dessen Anwälte mit: "Herr Schmidt ist nicht Verfasser der von Ihnen benannten Notiz. Weitere Erklärungen hierzu gegenüber der Presse wird weder Herr Schmidt noch seine Verteidigung abgeben." Die Frankfurter Staatsanwaltschaft, die im WM-Kontext wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung ermittelt, erklärt auf konkrete Fragen zur Notiz: "Hierzu können aus ermittlungstaktischen Gründen keine Angaben gemacht werden." Allerdings sind die Hessen wegen ihrer Konzentration aufs Steuerthema gar nicht erste Ermittlungsadresse für etwaigen Stimmkauf. Zuständig hierfür ist vor allem die Schweizer Bundesanwaltschaft (BA), die sich generell mit verschobenen WM-Vergaben befasst - auch mit dem 2006-Verdacht. Auch die BA gibt sich auf Anfrage bedeckt: Sie stehe "im rechtshilfeweisen Kontakt mit den zuständigen deutschen Behörden, was den Gesamtkomplex Sommermärchen betrifft".
Um den Vermerk einordnen zu können, hilft ein Blick zurück in jenen Herbst 2015, als er offenkundig entstand. Mitte Oktober hatte der Spiegel mit einer Titelgeschichte die Sommermärchen-Affäre ausgelöst. Es ging um besagte zehn Millionen Franken, umgerechnet 6,7 Millionen Euro, die Louis-Dreyfus im Jahr 2002 vorgestreckt hatte - und für die er einen Schuldschein von Beckenbauer erhalten hatte. Im April 2005 floss das Darlehen zurück. Aber nicht von Beckenbauer. Das deutsche WM-OK überwies die 6,7 Millionen an die Fifa, als Beitrag zur damals geplanten, später aber stornierten WM-Eröffnungsgala. Die Fifa wiederum reichte den Betrag noch am selben Tag an Louis-Dreyfus weiter. Naheliegende These schon damals, und vom Spiegel auch entsprechend intoniert: ein diskretes Millionen-Karussell für den Kauf von WM-Stimmen.
Kurz darauf legten die deutschen Verantwortlichen folgende Erklärung vor: Fifa-Vertreter hätten 2002 angeboten, den Organisationszuschuss für die WM auf 250 Millionen Franken festzulegen. Zunächst sollten die Deutschen aber zehn Millionen Franken zahlen. Was schon damals absurd klang, ist heute widerlegt.
Allerdings war, das ist auch wichtig für die Einordnung der Notiz, in den Herbsttagen 2015 vieles noch nicht bekannt, was Strafermittler, Medien oder die vom DFB beauftragte Kanzlei Freshfields später herausfanden. Etwa, dass bei den Schiebereien im Jahr 2002, an deren Ende zehn Millionen Franken bei dem sinistren Fifa-Funktionär Mohammed bin Hammam in Katar gelandet waren, ein auf Franz Beckenbauer lautendes Konto eine zentrale Rolle spielte. Es war auch noch nicht jenes Dokument von Louis-Dreyfus' Bank bekannt, in dem es hieß, dass hinter dem Darlehen des Franzosen an Beckenbauer der Zweck stecke, Fernsehrechte aus dem Nachlass der im Frühjahr 2002 insolvent gegangen Kirch-Gruppe zu erwerben.