Deutschland vs Niederlande bei der Fußball-EM:Komm, süßer Tod

Erst umgeben von Favoriten fühlt sich die niederländische Nationalmannschaft richtig wohl. Im Gegensatz zu Deutschland hat sie fast immer Lospech - und schaltet dann ihre vermeintlich starken Gegner aus. Beim Duell mit dem Erzrivalen müssen die Männer in Orange beweisen, dass sie die Könige der schwierigen Vorrundengruppen sind.

Jannis Brühl

Christian Wörns kommt einen Schritt zu spät, Ruud van Nistelrooy drückt den Ball im Fallen an Wörns und Oliver Kahn vorbei ins lange Eck. Es ist der 15. Juni 2004 in Porto, EM-Vorrunde. Die Niederlande gleichen zum 1:1-Endstand gegen Deutschland aus.

Das letzte EM-Duell der beiden Erzrivalen war der Anfang vom Ende des alten deutschen Fußballs und Rudi Völlers Karriere als Nationaltrainer. Der hatte das Ergebnis der Auslosung vor dem Turnier zur "Hammergruppe" erklärt - und es gibt offenbar wenig, das die Niederländer so lieben wie Gruppen, die starkgeredet werden.

In den Duellen zwischen den Niederlanden und Deutschland steckte immer viel Leidenschaft. So viel, dass sie oft ins Hässliche kippte. Noch explosiver wird das Duell, wenn es in einem Umfeld voller Sprengstoff stattfindet - wie der Gruppe B der diesjährigen Europameisterschaft.

"Das ist eine Dynamit-Gruppe", sagte Morten Olsen nach der Auslosung im vergangenen Jahr. So umging Dänemarks Trainer das martialische Wort von der "Todesgruppe", ein etwas hilfloser Begriff, den Journalisten und Fans für jede Ansammlung von Favoriten in einer Vorrundengruppe benutzen.

Deutsche Bundestrainer grinsen nach Gruppenauslosungen meist zufrieden in sich hinein, weil sie gegen Österreich oder Polen spielen dürfen. Die Niederlande haben dagegen meist Lospech. Trotzdem überstanden sie mit Ausnahme der EM 1980 die Vorrunde bei jeder EM, an der sie teilnahmen. Gleiches gilt für Weltmeisterschaften. Je stärker die Gegner, umso mehr wachsen sie in der Gruppenphase über sich selbst hinaus.

1996 erwischten sie den hochmotivierten Gastgeber England. Bei der EM 2000 im eigenen Land waren Weltmeister Frankreich, Vize-Europameister Tschechien und Dänemark die Gegner - Oranje wurde ohne Punktverlust Erster. Vier Jahre später in Portugal warteten Deutschland und Tschechien - wieder zogen die Niederländer Ins Viertelfinale ein. 2008 bei der Alpen-EM schlossen die Niederlande die Gruppe vor Weltmeister Italien, Rumänien und WM-Finalist Frankreich ab.

Nach dem Glanz der Vorrunden ist in den K.-o.-Runden dann aber meistens Schluss für die Niederlande. Außer dem EM-Titel 1988 haben sie nach wie vor kein großes Turnier gewonnen. Womöglich haben sie in den schweren Gruppenspielen auch zu viel Kraft gelassen.

Was soll eine "Todesgruppe" eigentlich sein? Abgesehen von der geschmacklosen und unpassenden Bezeichnung gibt es keine objektiven Kriterien. Es ist ein bisschen wie mit der Pornografie, die der amerikanische Richter Potter Stewart einmal so definierte: "Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe."

Der Begriff beruht auf der Vorstellung, dass es "große Fußballnationen" gibt - wie Deutschland und die Niederlande - und "kleine". Berti Vogts' Urteil "Es gibt keine Kleinen mehr" haben viele noch nicht verinnerlicht. Vorteil für alle beteiligten Trainer und Spieler: Schwache Teams mit großer Vergangenheit werden starkgeredet - ein Sieg wirkt wertvoller als er tatsächlich ist. Im Falle des Ausscheidens kann auf die brutale Zusammensetzung der Gruppe verwiesen und so die Verantwortung weitergereicht werden.

Als Norwegen Weltranglistenzweiter war

Die Sportredaktion des Guardian hat sich an einer Wissenschaft der starken Gruppen versucht. Sie will ausgerechnet haben, dass die Deutschen 1996 - auf dem Weg zu ihrem letzten EM-Titel - die schwerste Gruppe der Euro-Geschichte erwischten: Sie spielten gegen Tschechien, Russland und Italien. Dazu haben die Journalisten die Platzierungen der Teams in der Fifa-Weltrangliste herangezogen und den Durchschnittsplatz ausgerechnet: Er lag bei 5,5. Die deutsch-niederländische Gruppe in diesem Jahr ist nach dieser Rechnung nur geringfügig schwächer.

Nistelrooy Wörns Fußball-EM Europameisterschaft EM

Duell in Porto 2004: Ruud van Nistelrooy (r.) gegen Christian Wörns. Die Niederlande wurden Gruppenzweiter, Deutschland musste nach Hause fahren.

(Foto: Imago)

Diese Methode wirft zwei Probleme auf. Erstens: Die Weltrangliste wird nach einem schwer durchschaubaren Algorithmus berechnet, der dem von Google Konkurrenz macht. Ob sie die tatsächliche Stärke von Mannschaften wiederspiegelt, ist umstritten: Kritiker führen als Beispiel an, dass Norwegen in den neunziger Jahren nach einer guten WM-Qualifikation kurzzeitig auf Platz zwei stand, Israel vor ein paar Jahren auf Platz 15.

Zweitens: Die Weltrangliste ist flüchtig. Vor einer Woche lag der Durchschnittswert der Gruppe B noch bei 4,75, dann ging die WM-Qualifikation in Südamerika weiter. Uruguay nahm Deutschland den zweiten Platz ab, Argentinien überholte Portugal und die Dänen (die immer noch in den Top Ten sind). Plötzlich liegt der Wert nur noch bei 6,5. Sind die drei Teams in der vergangenen Woche schlechter geworden? Wohl kaum.

Bei Europameisterschaften waren bis 1996 alle Gruppen sehr schwer - weil nur acht Mannschaften teilnahmen. Heute sind 16 Teams dabei, erschwerend kommt hinzu, dass Europameisterschaften mittlerweile auch an zwei Staaten auf einmal vergeben werden. Damit kann es zu einem Ungleichgewicht in den Lostöpfen kommen, die Wahrscheinlichkeit auf sehr starke Gruppen ist wieder gestiegen. Denn beide Gastgeber sind gesetzt, der Titelverteidiger ebenfalls. Zusätzlich wird nur ein Team gesetzt, das nach seiner Leistung der vergangenen Monate ausgewählt wird, die als soganannter Uefa-Koeffizient berechnet wird.

Sind die Gastgeber eher schwach, bleiben weniger slots, also Plätze, auf die starke Nationen gesetzt werden können - damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich mehrere "große" Teams in einer Gruppe treffen. So geschah es bei der EM 2008. Österreich und die Schweiz als Gastgeber, die Griechen als amtierende Champions waren gesetzt. Alle drei schieden in der Vorrunde aus. In Gruppe C ballten sich dafür Italien, die Niederlande, Frankreich und Rumänien.

Die wichtigsten Spiele sind in schweren Gruppen übrigens nicht die gegen die Favoriten. Das 1:1 gegen die Niederlande 2004 wäre für die Deutschen eigentlich ein akzeptables Ergebnis gewesen. Rausgeflogen sind sie letztendlich, weil sie 0:0 gegen Lettland spielten - den größten EM-Außenseiter aller Zeiten.

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