DFB-Team in der Nations League:"Marcus!!!!! Wie spielen wir jetzt?"

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Hände hoch: Die deutschen Spieler beschweren sich nach dem 1:1 des Spaniers Gayá (Mitte) zu Unrecht, denn Debütant Robin Gosens (vorne links) hat das Abseits aufgehoben. (Foto: Thomas Kienzle/AFP)

Beim 1:1 gegen Spanien zeigt sich, dass dem DFB-Team noch Kraftreserven fehlen. Doch mit seinen Wechseln irritiert Bundestrainer Löw sogar die eigene Elf.

Von Philipp Selldorf, Stuttgart

Diese Szene in der 14. Minute war vielleicht nicht die wichtigste, aber sicher eine der spannendsten Szenen des Abends. Eine dieser Momentfolgen, die sich so einprägen, dass man sie vor dem inneren Auge in Zeitlupe abspielen kann: Wie Emre Cans Rückpass zur Vorlage für den spanischen Mittelstürmer Rodrigo gerät; wie sich der Angreifer an Kevin Trapp vorbeiwindet und ein nahezu leeres Tor vor sich hat; wie er dann aus unerfindlichen Gründen mit dem Schuss zögert, und wie Trapp schließlich ein punktgenaues Tackling setzt, um das ihn jeder langgediente Abwehrfachmann beneiden dürfte.

Auch Trapp hat den Ablauf wie ein Zuschauer verfolgt, "eine komische Szene, gar keine Frage", wie er später erzählte. Eigentlich hatte er die Gegenwehr schon eingestellt und sich mit dem 0:1 abgefunden, "aber als ich gesehen habe, dass er den Ball nicht reinschießt, dachte ich mir: Den schnapp' ich mir noch." Der Torwart warf die Angst vor einem Foul und einer roten Karte über Bord, rutschte gekonnt hinein ins Geschehen und verhinderte den Schuss des Spaniers.

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Die andere Szene, die sich einprägte, passierte am Rande des Feldes, der Ball war in weiter Ferne. Sie hatte nicht diesen packenden Spielfilmcharakter, aber sie verriet einiges über das Zustandekommen des 1:1 beim Treffen der beiden Weltmeisternationen. Dieses Remis war zwar gerecht wie ein Richtspruch von König Salomon, hinterließ aber gegensätzliche Gefühlslagen: ärgerliche Deutsche und glückliche Spanier. Die besagte Szene dauerte bloß ein oder zwei Sekunden und bestand lediglich aus einem einzigen Satz, einem irritierten Zuruf von Toni Kroos an Löws Assistenztrainer Marcus Sorg: "Marcus!!!!! Wie spielen wir jetzt?"

Ein Stück Taktik-Kritik

Nicht nur der Kapitän und Chefstratege Kroos stellte sich diese Frage, nachdem der Bundestrainer in der 63. Minute einen recht seltsam anmutenden Wechsel angeordnet hatte: Für den fleißigen Angreifer und Dauersprinter Leroy Sané, der wegen Krämpfen den Spielbetrieb hatte einstellen müssen, beorderte er Matthias Ginter auf den Platz. So hatten die Deutschen nun ein Quartett von Innenverteidigern auf dem Feld, wobei Emre Can aus dem Deckungszentrum eine Reihe aufrückte.

Beim Stand von 1:0 ließ sich diese Teamordnung durchaus als Befehl zum Rückzug deuten, und genauso war es ja auch gemeint: "Wir haben versucht, uns hinten reinzustellen", berichtete Can später. Die Folge war absehbar: Die Spanier legten ungestört den Vorwärtsgang ein. Ja, dieses Thema sei "ein guter und wichtiger Punkt", stimmte Julian Draxler später zu: "Wenn du gegen Spanien eine halbe Stunde nur verteidigst und auf Angriffe wartest", dann blieben Schwierigkeiten nicht aus. Er hätte sich "vielleicht gewünscht, den einen oder anderen Spieler mehr in der Offensive zu haben, um Entlastung zu schaffen". Draxler meinte es gewiss nicht ketzerisch, aber dass seinen Aussagen ein Stück Taktik-Kritik innewohnte, das war nicht zu überhören.

Zum Schluss räumte auch Timo Werner noch seinen Posten im Angriff, um dem Abwehrmann Robin Koch Platz zu machen - Vorstopper Nummer fünf sozusagen. "Am Ende hatten wir so viele Verteidiger auf dem Platz und konnten es trotzdem nicht klären", klagte er. José Luis Gaya schoss in der 95. Minute das 1:1. Sein Trainer Luis Enrique fand dennoch Worte des Bedauerns: Schade, dass der Ausgleich nicht schon in der 80. Minute gefallen sei, als Thiagos Schuss das Ziel verfehlte: "Sonst hätten wir noch gewinnen können."

Wenn es ums Gewinnen geht, um die härteste und elementarste Währung des Sports, dann hat Joachim Löw allerdings schon immer seine eigenen Auffassungen gehabt. Befragt, wie schwer es ihn nun treffe, dass seine Elf auch im fünften Anlauf noch kein Spiel in der Nations League gewonnen habe, erwiderte er: "Ergebnisse in der Nations League, muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, sind nicht das Allerwichtigste."

Ergebnisse seien "gut und schön", das schon, doch die Fortschritte der Spieler seien ihm wichtiger. Der späte Ausgleich, nun ja, "mit großen Teilen des Spiels war ich sehr zufrieden", und mit dem Debütanten Robin Gosens ebenso ("Habe ihn gut gesehen"). Bergamo-Profi Gosens hatte erst Werners 1:0 vorbereitet, beim Ausgleich dann nach einer erfolglosen Grätsche das Abseits aufgehoben - und kurioserweise später zu erkennen gegeben, dass er diese Regel gar nicht kannte: dass ein Verteidiger auch im Toraus mitgezählt wird.

Tatsächlich war diese Begegnung unter den 183 Länderspielen des Cheftrainers Jogi Löw alles andere als eine gewöhnliche Übung, nicht nur deshalb, weil im Stuttgarter Stadion kein einziger unbeteiligter Zuschauer saß und der DFB-DJ in den Pausen nicht die übliche Stimmungsmusik auflegte, sondern amerikanische Schlager, die sonst vorzugsweise auf dem Weihnachtsmarkt zu hören sind.

Es waren die im Grunde widersinnigen Umstände, die Löw diesmal so defensiv denken ließen. "Wir spielen, solange die Kräfte reichen", lautete seine Ansage zur Pause, der Plan zum geordneten Rückzug nach einer Stunde habe ja schon vor dem Spiel bestanden, wie Can verriet: "Man muss ehrlich sein: Wir hatten nicht so viel Luft." Und so ein Länderspiel habe ja auch noch keiner erlebt: "Die einen kommen direkt aus dem Urlaub, die anderen hatten nur eine kurze Vorbereitung, wir haben fast gar nicht trainiert." Gleiches galt allerdings für die Spanier nicht weniger als für die Deutschen.

Für Löw jedoch ist diese Länderspielsaison offenbar eher eine Überlebensübung als eine Abfolge von Wettkämpfen mit dem Ziel, die Finalrunde zu erreichen und einen weiteren Pokal zu gewinnen. "Richtig platt" seien die Spieler, "auf dem Zahnfleisch" seien sie allesamt gelaufen, hob er immer wieder hervor, und prophezeite, dass sich daran in den nächsten Monaten nicht viel ändern werde: "Da bin ich extrem sensibel und empfindlich, wenn ich sehe, was bis April, Mai für ein Programm ansteht."

Am Sonntag geht es in Basel mit dem Spiel gegen die Schweiz weiter, die zweite von acht Etappen in einem hektischen Länderspielherbst, wie es ihn noch nie gegeben hat und wie ihn eigentlich auch niemand haben möchte. Ein Dilemma, das Löw eingestandenermaßen ratlos zurücklässt: "Grundsätzlich habe ich da keine Lösung bereit", gestand er.

© SZ vom 05.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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