Süddeutsche Zeitung

Sieg des DFB-Teams:Ein Fußball-Abend, der neue Akzente setzt

Lesezeit: 4 min

Gegen Rumänien steht sich die deutsche Elf oft selbst im Weg, doch sie überzeugt das Hamburger Publikum mit Eifer, Einsatz und Tempo. Die Reaktion der Fans überrascht sogar den vielgereisten Thomas Müller.

Von Philipp Selldorf, Hamburg

Der Fußball-Abend befand sich bereits in der Überstunde, bis zur Gutschrift von weiteren drei Punkten für die WM-Qualifikation fehlte der deutschen Nationalelf beim Stand von 2:1 bloß eine Kleinigkeit, doch der Gegner ließ sich infamerweise nicht abwimmeln. Rumänien griff noch mal an. Ob dann der Rasen im deutschen Strafraum "lichterloh brannte", wie man in der Fachsprache sagt, oder doch nur moderate Erhitzung erfuhr, bleibt Ansichtssache, an Alarmstimmung fehlte es jedenfalls nicht, als Andrei Ratiu den Ball scharf in die Mitte passte.

Niklas Süles Eingreifen bewirkte schließlich zweierlei: Er trat der Gefahr des Ausgleichs entgegen - und er wendete einen möglichen Nervenzusammenbruch des Teamkollegen Marc-André ter Stegen ab. Hätte der deutsche Torwart in dieser 92. Minute einen zweiten Treffer hinnehmen müssen, wäre er womöglich schreiend davongelaufen.

Es war ter Stegens dritter Einsatz für Deutschland binnen zwei Jahren, er vertrat - wie üblich: ausnahmsweise - den verletzten Manuel Neuer (Adduktoren), und wieder sah es aus wie eine seiner typischen Geschichten im Nationaltrikot. Diesmal gab es zwar keine peinliche Niederlage wie vor einem halben Jahr beim 1:2 gegen Nordmazedonien, stattdessen durchlebte der Kapitänsherausforderer eine andere Variation seiner zuverlässig unbefriedigenden DFB-Auftritte: Niemand schoss auf sein Tor, aber wenn es doch mal einer tat, dann lag der Ball im Netz. Torhüter hassen das: Nicht mitgespielt und trotzdem nicht die Null gehalten. So macht, wie beim vorletzten Einsatz, Oktober 2019, nicht mal ein für alle anderen fröhliches 6:1 in Nordirland Spaß. "Wenn ein Tor fällt, ist es für einen Torhüter immer blöd", bemerkte am Freitag der Bundestrainer Hansi Flick in Richtung ter Stegen.

Um die Popularität und Kreditwürdigkeit der Nationalelf ist es wieder besser bestellt

Dennoch hat sich der Torwart des FC Barcelona in tadellos aufrechter Haltung an der Ehrenrunde im Hamburger Volkspark beteiligt. Gemessenen Schrittes zogen die Spieler an den applaudierenden Menschen vorbei, beide Seiten waren sich auffallend in Sympathie verbunden. Der Siegtorschütze Thomas Müller sprach dem Publikum ungefragt ein Lob aus: "Man muss auch ein Kompliment an die Fans hier machen", sagte er, trotz des lang andauernden Rückstands habe es "die Leistung honoriert". Der Freudenschrei der 25 000 über das späte 2:1 hatte den vielgereisten Müller ernsthaft beeindruckt - "das war schon eine kleine Explosion".

Die Paarung "Hamburg" und "Gefühlsausbruch" klingt zunächst nach einem Widerspruch in sich, da fällt einem gleich Olaf Scholz ein, der als berufsmäßiger Stoiker die Bestbesetzung für einen Hamburger Bürgermeister zu sein schien. Nun zeigte die lebendige Resonanz im Volkspark an, dass es um die Popularität und Kreditwürdigkeit der Nationalelf wieder besser bestellt ist als in den vielseitig belasteten letzten Jahren mit Jogi Löw. Vom Zustand der Beziehungskrise hat sich das Verhältnis vorerst erholt. Einen Teil der Verdienste am Wandel reklamierte Hansi Flick für seine Spieler, sie hätten "mit ihrer tollen Mentalität das Publikum mitgenommen", fand er: "Es war kein perfektes Spiel, aber mit dem Willen der Mannschaft sind wir sehr einverstanden."

Dieser Abend setzte neue Akzente bei der längst nicht abgeschlossenen Amtseinführung des neuen Bundestrainers. Beim Einstand im September hatte sein Team im Steigerungsmodus von mühsam bis souverän drei Pflichtübungen erledigt, diesmal gab es zur Abwechslung einen richtigen Gegner. Dennoch standen sich letztlich die deutschen Spieler selbst am meisten im Weg, nicht nur komödiantisch wie beim Torschuss von Serge Gnabry, dem ausnahmsweise kein Rumäne, sondern Leroy Sané in die Quere kam, sondern im Großen und im Ganzen. An Eifer, Einsatz, Bewegung oder Tempo fehlte es nicht, wohl aber an Präzision, Abstimmung, Übersicht und Verstand, außer dem Rückstand musste die massiv überlegene deutsche Elf deshalb auch vielen selbstverschuldeten Abspielfehlern hinterherrennen.

Gnabry, der gefährlichste Angreifer, war schließlich der logische Schütze, Timo Werner war dafür nicht so sehr in Frage gekommen. Wie kein zweiter kombinierte der Mittelstürmer sämtliche Tugenden wie sämtliche Mängel des Teams. "Das eine oder andere war nicht ganz so glücklich", befand Flick, bekannte sich aber auch zu seinem Vertrauens-Programm: Werner sei "schon ein Stürmer, der Tore schießen kann und weiß, wie es geht, und er bekommt von uns die Einsätze und die Rückendeckung, die er braucht".

"Die Konkurrenzsituation ist da - aber so soll es auch sein", sagt Marco Reus

Auf die zentrale Erkenntnis-Frage, ob es der deutschen Mannschaft noch an der Schulung durch den neuen Trainer oder eben doch stellenweise an der nötigen Spitzenklasse mangelt, um ebenbürtig mit Frankreich, Belgien oder Spanien zu konkurrieren, konnte dieses Spiel keine Auskunft geben. Dafür waren die guten Rumänen doch eine Nummer zu klein. Erstmal muss also das Fazit genügen, dass die deutschen Spieler nicht weniger Motivation mitbringen als ihr immer noch euphorischer Trainer, der im Vergleich mit seinem altersberuhigten Vorgänger geradezu hyperaktiv wirkt. Nach den TV-Interviews legte Flick in Hamburg noch eine spontane Autogramm- und Selfie-Session mit Zaungästen ein. Fans riefen im Stadion so laut nach "Haaansi", als ob sie auf einem Berggipfel das Echo beschwören wollten.

Es gibt unbestreitbar Bewegung im Betrieb der DFB-Elf. So sitzt jetzt beispielsweise Thomas Müller-spielt-immer auf der Bank und braucht sich darüber nicht zu beschweren, weil Kai Havertz und Florian Wirtz gleich neben ihm sitzen. Der Startelfspieler Marco Reus beschrieb die Lage in passenden Worten: "Die Konkurrenzsituation ist da - aber so soll es auch sein." Havertz und Müller ergänzten nach ihrer Einwechslung die Möglichkeiten merklich, und am Ende stand der Münchner planmäßig richtig, um das 2:1 zu schießen.

Ein Tor nach einem Eckstoß, das kam bei Löws Deutschland zuletzt höchstens als Zwischenfall vor. "Niki (Süle) hat den Raum freigezogen, Leon (Goretzka) trifft ihn perfekt auf den zweiten Pfosten, und dann habe ich ihn ganz gut reingedrückt", berichtete Müller von einem Erfolgserlebnis, dem Flick Methodik nachsagte. Der Coach ortete die Regie des von ihm engagierten Standardtrainers Mads Buttgereit hinter dem Siegtor. Man habe sich etwas "überlegt", sagte er, "das gefällt mir sehr gut: Wir sind da schon einen Tick weiter".

Am Montag wird die Tour in Skopje fortgesetzt. Ein Sieg gegen Nordmazedonien in der Tose-Proeski-Arena brächte die WM-Qualifikation - und vielleicht auch Marc-André ter Stegen mal ein Länderspiel-Lächeln.

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