Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalmannschaft:Flicks souveränes Hauptwerk

Die Trilogie der ersten Länderspiele unter Hansi Flick endet mit einer durchaus beeindruckenden Leistung gegen Island. Gewinner und Verlierer des neuen Regimes zu benennen, kommt zu früh - doch eine Ausnahme macht der Bundestrainer.

Von Philipp Selldorf, Reykjavik

Die Spieler, die nach dem WM-Qualifikationsspiel zwischen Island und Deutschland das Feld im Nationalstadion Laugardalsvöllur betraten, trugen keine Trikots und Stutzen, nicht mal Fußballschuhe, stattdessen Anoraks und Sneakers. Der Platz gehörte jetzt nicht mehr den isländischen Profis, die soeben ein unzweideutiges 0:4 gegen die unbarmherzigen Gäste vom Festland hatten hinnehmen müssen, sondern deren Söhnen und Töchtern. Während die Kinder auf dem Festspielrasen den Ball laufen ließen, hatten die Väter die nahe Tribüne geentert und plauderten dort mit Verwandten und Freunden - menschliche Nähe ist auf Island wieder Normalität, und eine Blase für Berufsfußballer existiert auch nicht mehr. Familiär, herzlich und skandinavisch entspannt ging somit der Abend im Laugardalsvöllur zu Ende, jenem sagenhaften Ort, der vor 18 Jahren Schauplatz der zuletzt wieder überall rezitierten Rudi-Völler-Tirade war.

Völlers Nachfolger als Bundestrainer hingegen war mit den Begebenheiten des Abends so zufrieden, dass er ins Schwärmen geriet. Was Hansi Flick besonders imponiert hatte: "Junge, schnelle, technisch gute Spieler, die richtig drauf gehen und mutig spielen, das hat mir im Ansatz sehr gut gefallen." Damit sprach er allerdings über die Mannschaft seines isländischen Kollegen Arnar Vidarsson, dem er die Komplimente ausdrücklich auch in voller Länge persönlich übermittelt hatte. Bei der eigenen Mannschaft könne er es dagegen mit der Analyse "ganz kurz machen", sagte Flick: "Wir wollten nachlegen, das Spiel bestimmen und Tore schießen." Flick sah, wie es den Anschein hatte, sämtliche Programmpunkte als erledigt an.

Sieht man die vergangene Länderspielreihe als Trilogie und Hansi Flick als deren Regisseur, dann lässt sich sagen, dass Teil zwei (6:0 gegen Armenien) viel besser war als Teil eins (2:0 gegen Liechtenstein), dass aber Teil drei als ausgewogenes, souveränes Hauptwerk hervorragte, wenn auch nicht so pompös und unerreichbar wie Teil drei der Dollar-Trilogie mit Clint Eastwood, Eli Wallach und Lee van Cleef (zu deutsch damals "Zwei glorreiche Halunken" - ja: zwei!). Ein 4:0 gegen die Abordnung der Insel Island mit ihren 356 000 Einwohnern kann schon aus Prinzip nicht in den Rang eines Klassikers erhoben werden, das meint auch der Regisseur selbst. Den Reporter, der von Flick die Genehmigung erbat, eine schon quasi gelungene WM-Qualifikation nach Hause melden zu dürfen, hielt der Chefcoach gerade noch am Kragen zurück: "Bleib' mal jetzt schön ruhig", ermahnte er.

Grundsätzlich findet Flick zwar, man könne "sehr zufrieden sein mit der Entwicklung", er meint sogar, die Mannschaft habe die Fußball-Idee des neuen Trainerstabs "hervorragend interpretiert". Aber er weiß auch um das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Spätestens durch das 2:0, das Antonio Rüdiger in der 24. Minute mit einem Kopfball erzielt hatte (Serge Gnabry hatte für die frühe Führung gesorgt), beseitigte der Favorit die restlichen Zweifel am Gelingen seiner Mission. Doch auch das ist ja nicht immer eine Selbstverständlichkeit, die Ruhe und Ernsthaftigkeit, mit der die Deutschen die keineswegs kapitulierenden Isländer auf Distanz hielten und weitere Treffer einstreuten, war durchaus beeindruckend.

Serge Gnabry sieht unter Flick einen "neuen Wind und eine neue Spiellaune"

Das Finale dieser Dienstreise geriet allerdings sehr mühevoll. Wie üblich hatte es die Delegation des DFB sehr eilig nach der Partie, um kurz nach Mitternacht sollte das Flugzeug nach Frankfurt starten. Lediglich die in England beschäftigten Spieler sowie die Bayern Manuel Neuer, Joshua Kimmich und Serge Gnabry blieben noch bis zum Morgen, letztere zogen den erholsamen Nachtschlaf dem schnellen Charterflug vor und nahmen eine Linienmaschine nach München. Womit sie ganz richtig lagen. Denn der vermeintlich schnelle Charterflug führte nicht nach Hause, sondern ins schottische Edinburgh, wo die DFB-Maschine aus Sicherheitsgründen zwischenlanden musste. Erst am Vormittag ging es von dort aus mit einer aus Deutschland eingeflogenen Ersatzmaschine weiter.

Der eine oder andere in der Reisegruppe hat diesen Exkurs sicher nicht gebraucht, um den Spannungsgrad der Tour zu steigern. Trotz des neuen Personals an der Taktiktafel stellten zumindest einige etablierte Spieler den Ausflug als Routine-Trip dar. Serge Gnabry etwa wollte partout kein Geheimnis hinter dem plötzlichen Tore-Segen (12:0) sehen: "Ich glaub', gerade machen wir einfach die Kisten." Torchancen habe man auch zu Jogi Löws Zeiten gehabt.

Gefragt, was die neue Führung konkret an der Arbeitsweise geändert habe, zuckte er mit den Schultern. Da könne er nichts Greifbares bieten, "da muss ich Sie leider enttäuschen". Einen Einfluss immerhin konzedierte der Münchner, der in der Nationalelf auf einmal wieder Torjäger-Qualitäten entwickelt: Es gebe eben "einen neuen Wind und eine neue Spiellaune - deswegen fallen einem die Dinge leichter". Leroy Sané dürfte das gern bestätigen: In jedem Spiel hat er sein Tor geschossen, und wie bei den drei Dollar-Filmen wurde es von Mal zu Mal besser bei ihm, beim Auftritt in Reykjavik sah es teilweise wieder aus wie in seinen besten Zeiten: Als müsste er sich gar nicht anstrengen, um etwas Besonderes hervorzubringen.

Natürlich wäre es viel zu früh, jetzt schon irgendwelche Gewinner und Verlierer des neuen Regimes zu benennen, aber zumindest in einem Fall ist die Ausnahme unerlässlich, wie auch Flick meinte. Einen Spieler könne er "herausheben - das mache ich gern", sagte er einen Satz, den Fußball-Lehrer üblicherweise meiden, weil sie befürchten, damit das Gemeinwesen in der Kabine zu gefährden. Thilo Kehrers Comeback zu würdigen, war jedoch quasi eine Verpflichtung. Dass der 24 Jahre alte Gast aus Paris dreimal hintereinander durchspielen würde, das hatte ja niemand erwartet, vermutlich auch Flick nicht. Aber der Bundestrainer erkannte, dass Kehrer, neuerdings wieder Stammspieler bei PSG, nicht nur topfit ist, sondern auch flexibel für alle Anwendungen in der defensiven Reihe. Links, rechts, innen - Kehrer kann überall spielen. "Jeder Spieler kann jetzt mit einem guten Gefühl nach Hause fahren", sagte Hansi Flick. Jeder Trainer übrigens auch.

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