Deutschland in der Einzelkritik:Erschöpft im Verschiebebahnhof

Schweinsteiger verdient sich die Kapitänsbinde, Trochowski hat ein Problem, für das er nichts kann, und Friedrich zeigt eine Mischung aus neuem und altem Arne. Und das gesamte Team zeigt zu wenig Leidenschaft. Die Einzelkritik.

Christof Kneer und Philipp Selldorf

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Manuel Neuer: Musste wieder in jenem an den Klassenfeind aus Dortmund erinnernden gelben Pulli spielen. Eine seelische Grausamkeit der Fifa. Nach sechs Minuten verdiente der Pulli aber erstmals Lob: Mit der darin steckenden Brust wehrte er einen Schuss von Villa ab. In der ersten Halbzeit sonst selten herausgefordert, von Piques Fernschuss abgesehen, den er sicher festhielt. Lernte zu Beginn der zweiten Hälfte, in der spanischen Hochdruckphase, das Fliegen. Flog bei den gefährlichen Schüssen von Iniesta und Pedro von links nach rechts, parierte einmal ansehnlich. Strahlte im Gegensatz zu seinen Vorderleuten nicht Passivität aus, sondern Ruhe.

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Philipp Lahm: Bestritt sein erstes Länderspiel nach der Kampfansage an den (noch) aktuellen Capitano Michael Bal-lack. ,,Jersey sixteen - the captain'', kündigte ihn der Stadionsprecher an, das klang plötzlich ziemlich bedeutsam. Mit Ballacks ,,13'' spielte dagegen niemand, weil: Der neue Nummerninhaber Thomas Müller fehlte gesperrt. Auf dem Feld zunächst weniger offensiv als zuletzt im Interview: Konnte als Kapitän ja schlecht nach vorne rennen, während die Kollegen verteidigten. Gelegentliche, ganz hübsche Kombinationsversuche mit Trochowski, Betonung liegt auf gelegentlich.

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Per Mertesacker: Ihm tat der defensive deutsche Beginn gut. Durfte das tun, was er am besten kann: tief stehen und Bälle klären. Ihn hatten die Spanier als eine der beiden Wegmarken in der Deckung vorgesehen, um Steilpässe zu platzieren. Mertesackers Zusammenarbeit mit Friedrich - der anderen Wegmarke - funktionierte jedoch zuverlässig. Sie ließen selten Lücken. Im Aufbauspiel wechselten lichte Momente - ein feiner Steilpass auf Schweinsteiger - mit mittelalterlichen Rumpelbällen.

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Arne Friedrich: Durfte auch das tun, was er am besten kann: tief stehen und Bälle klären. Musste schwer schuften, um seinen neu erworbenen Ruhm zu wahren. Ansonsten? Siehe unter Mertesacker. Ein, zwei schlampige Zuspiele nach vorne, die den alten Arne Friedrich erkennen ließen. Aber auch einige Defensivszenen, die den neuen Arne Friedrich zeigten. Oft war's eine Mischung: Der neue Arne klärte gut, der alte Arne verrumpelte den Pass.

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Jérôme Boateng: Manchmal denkt man, dass bei ihm Körper und Seele nicht korrespondieren. Er hat die Statur eines starken Mannes, aber er wirkt oft verzagt wie ein Junge. Ab und zu will man ihm zurufen: Klopp mal richtig drauf! Darüber hinaus gab es keinen Grund, ihn um seine Rolle zu beneiden. Bekam es wahlweise mit Iniesta, Villa oder Ramos zu tun, und das auf der Abwehrposition, auf der er am wenigsten zuhause ist. Mühte sich rechtschaffen, aber nicht immer erfolgreich um Stabilität und Ordnung. Nach vorne völlig wirkungslos. Musste früh raus, schaute verwundert. Links hinten bleibt Löws Problemzone.

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Bastian Schweinsteiger: Durfte vielleicht noch nie so viel Sechser üben wie in diesem Spiel. Schloss Lücken, rannte in Räume, grätschte sogar. Ein hochmoderner Hacki Wimmer. Sehr seriös, sehr aufmerksam, technisch sehr versiert, was aber auch dringend nötig war. An ihm hat es nicht gelegen, dass den Spaniern während der ersten Halbzeit zu wenig physischer Widerstand begegnete. In der zweiten Hälfte mehrfach mit dem Blaulicht unterwegs. Rettete und löschte an allen Brennpunkten, versuchte sich dennoch am Aufbauspiel. Weniger spektakulär als zuletzt, aber trotzdem gut. Hätte auch eine Kapitänsbinde verdient.

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Sami Khedira: Führt die WM-Wertung der laufstärksten Spieler an, kommt auf über zwölf Kilometer pro Spiel. War im deutschen Defensiv-Verschiebebahnhof von Anfang an so gefordert, dass er es vermutlich in der ersten Viertelstunde schon auf zehn Kilometer brachte. Zu viel? Okay, auf neuneinhalb. Aufrechte Kampfhaltung, defensiv konzentriert, verteidigte aber weniger körperlich als Schweinsteiger. Manchmal ging ihm der spanische Kombinationswirbel ein bisschen zu schnell. Traute sich nach einer halben Stunde an die ersten (gelungenen) Pässe und Flanken. Normalerweise geht ein Sechser nach vorne, während der andere absichert. Diesmal sicherten beide. Beim spanischen Kopfballtor chancenlos gegen zwei Gegner.

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Piotr Trochowski: Hat ein Problem, für das er allerdings nicht viel kann: Er ist nicht Thomas Müller. Wirkte anfangs weit weg vom deutschen Spiel: Suchte sichtlich Anschluss. Lief dahin und dorthin, aber nirgendwo gefiel's ihm so recht, Bälle sah er nur aus der Ferne. In der achten Minute aber mit einem markant gewonnenen Defensivzweikampf. Sollte wohl heißen: Hallo, bin angekommen! Er kann nicht, was Müller kann (sich gefährlich überall rumschleichen und plötzlich furchtlos auftauchen), er kann aber andere Dinge: zum Beispiel schießen - wie in der 31. Minute, als Torwart Casillas seinen Linksschuss um den Pfosten lenkte. Technisch geschickt, gutes Verständnis mit seinem alten Jugendkumpel Lahm, auch wenn es nur sporadisch zur Geltung kam. Dennoch fehlten dem deutschen Spiel Müllers Sprints in die Tiefe. Musste deshalb recht früh raus.

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Mesut Özil: Man sah ihn wenig, aber es war wichtig, dass er dabei war. Gilt den Gegnern inzwischen als personifizierte Drohung, nach dem Motto: nur nicht zu offensiv werden, nicht, dass uns ein Özil-Pass erwischt! Es kam aber kaum einer. Deutschlands gefährlichster Umschaltspieler kam kaum dazu, umzuschalten - seine Mitspieler waren zu sehr mit defensiver Schufterei beschäftigt, um an Özil zu denken. Einmal kam er durch: Klose spielte ihn wunderbar an, Ramos stoppte ihn im Strafraum, angeblich regelgerecht. In den Zweikämpfen häufig überfordert, als wäre er erschöpft und überlastet. Wachte in der Schlussphase wieder auf.

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Lukas Podolski: Überragende Torquote - beim Einschießen. Beim Einlaufen ins Stadion um eine ernste und entschlossene Mimik bemüht, er musste dann aber doch zwinkern und lächeln. Sein Widersacher war Sergio Ramos, der mutmaßlich beste Rechtsverteidiger des Turniers (es sei denn, man hält Lahm für besser, was nie ein Fehler ist). Podolski war dadurch mehr als Linksverteidiger denn als Linksaußen gefordert. Das alte Lied: Ohne Raum hält sich seine Wirkung auf dem Flügel in Grenzen. Mitschuften kann auf dieser Position auch ein anderer, schuftete allerdings durchaus vorbildlich. Rettete einmal als mittelalterlicher Libero gegen Ramos.

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Miroslav Klose: Keine überragende Torquote - beim Einschießen. Kam im Spiel zunächst kaum dazu, den Torschuss weiter zu üben. War massiv in die defensiven deutschen Störmanöver eingebunden. Stellte sich als vorderster Abwehrspieler recht geschickt an und suchte sein Glück in allen Zonen der Offensive. Fiel auch mit gekonnten, klugen Manövern in der zweiten Reihe auf. Man hätte ihn sich gerne weiter vorne gewünscht - andererseits: Dann hätte er überhaupt keinen Ball bekommen.

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Marcell Jansen (ab 52.): Kam früh für den verwundert schauenden Boateng. Brachte immerhin das ins Spiel, was so lange fehlte: Feuer und Leidenschaft. Brachte mehr Leben ins Spiel, preschte nach vorne, manchmal aber ziellos.

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Toni Kroos (ab 62.): Kam für Piotr Trochowski, rückte auf die ungewohnte rechte Offensivseite. Hätte sich nach wenigen Minuten unsterblich machen können, doch beim Torschuss nach Podolskis präziser Flanke setzte er nicht genug Druck gegen den Ball. Er suchte aber den schnelleren Weg nach vorn als sein Vorgänger, zog zudem gerne von rechts in die Mitte.

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Mario Gomez (ab 81.): Als mittelalterliche Brechstange eingewechselt. Thomas Müller: Er fehlte, er fehlte, er fehlte. Was für ein Jammer.

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