Süddeutsche Zeitung

Deutschland - Frankreich:Das Gute an vergebenen Siegchancen

Obwohl sie bei der WM schon zum zweiten Mal einen Vorsprung in der Schlussphase verspielt, sieht die deutsche Mannschaft mit einem positiven Gefühl der Hauptrunde entgegen.

Von Joachim Mölter, Berlin

Geschichte wiederholt sich bisweilen, selten exakt, aber selten auch so schnell wie bei dieser Handball-WM. Am Montagabend ließ die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) im Vorrundenspiel gegen Russland sieben Sekunden vor Schluss noch den Ausgleich zu, zum 22:22. Am Dienstag passierte ihr das gleiche Malheur gegen Frankreich nochmal, diesmal drei Sekunden vor dem Ende zum 25:25.

Ist das nicht Unvermögen?

"Das waren je nach Sichtweise zwei unglückliche Aktionen oder zwei hervorragende Würfe", fand der deutsche Torhüter Andreas Wolff. Es war jedenfalls nichts, worüber sich die deutsche Mannschaft lange Gedanken machen wollte. "Ein Unentschieden gegen den Weltmeister ist immer noch ein Punkt", bilanzierte der halbrechte Rückraumspieler Fabian Wiede, der wie Martin Strobel und Kapitän Uwe Gensheimer vier Tore erzielt hatte, "da lassen wir jetzt nicht den Kopf hängen." Auch für Bundestrainer Christian Prokop war die Leistung seiner Mannschaft fast wichtiger als das reine Ergebnis: "Irgendwann werden wir uns belohnen dafür, das ist glasklar."

Es gibt in jedem Turnier Spiele, in denen es nicht so läuft, wie man das gern hätte. "Vielleicht hatten wir Glück, und dieses Spiel war das gegen die Russen", sagte Kreisläufer Patrick Wiencek. Auch Torwart Wolff zog tags darauf das Positive aus den vergebenen Siegchancen: "Wir hatten jetzt zweimal Pech, und wir haben uns eingeredet, dass wir die Pechsträhne in diesem Turnier jetzt hinter uns haben." Co-Trainer Alexander Haase empfahl, "das Gefühl mitzunehmen, dass wir solchen Spiele gewinnen können".

"Am Ende entscheiden Kleinigkeiten", erinnerte Kreisläufer Hendrik Pekeler

Die deutsche Mannschaft hat sich mit dem Punktgewinn gegen den Titelverteidiger ja schon vor dem abschließenden Gruppenspiel gegen Serbien an diesem Donnerstag (18 Uhr/ARD) für die Hauptrunde qualifiziert, sie wird neben einem guten Gefühl aller Voraussicht nach auch 3:1 Punkte nach Köln mitnehmen, die Ausbeute aus den Partien gegen die ebenfalls vorgerückten Franzosen und die vermutlich auch weiterkommenden Brasilianer (34:21). Diese Konstellation könnte sich allenfalls noch ändern, wenn Brasilien am letzten Vorrundenspieltag nicht gegen die bislang punktlosen Koreaner gewinnt (wovon kaum jemand ausgeht) und gleichzeitig Russland den Titelverteidiger Frankreich bezwingt (womit ebenfalls kaum jemand rechnet). Falls alles so kommt wie erwartet, hat das deutsche Team eine "sehr komfortable Ausgangsposition" für das Erreichen des angestrebten Halbfinales, wie DHB-Vizepräsident Bob Hanning vorrechnet: "Wir gehen dann mit einem Plus von elf Toren gegenüber den Franzosen in die Hauptrunde. Das heißt, wenn wir genauso oft wie die Franzosen gewinnen, kommen sie an uns nicht mehr vorbei."

Bei diesem Turnier wird zwar andauernd an den Titel-Triumph bei der Heim-WM 2007 erinnert, dabei wird aber übersehen, welche Dramen in den letzten Sekunden die damalige Handballer-Generation durchleiden musste, ehe sie ihre große Zeit einleitete mit Final-Teilnahmen bei den Europameisterschaften 2002 und 2004, bei der WM 2003 und bei Olympia 2004. Diesen Erfolgen waren herzzerreißende Niederlagen vorangegangen, beim WM-Viertelfinale 1999 in Ägypten, dem 21:22 in der letzten halben Minute gegen Jugoslawien. Im Olympia-Viertelfinale von Sydney 2000 gegen die Spanier, denen das Siegtor zum 27:26 sechs Sekunden vor Schluss gelang. Schließlich im WM-Viertelfinale 2001 gegen Gastgeber Frankreich, als der legendäre Jackson Richardson beim letzten Wurf den Ball regelrecht durch eine deutsche Abwehrmauer ins Tor beamte zum 22:22 und zur Verlängerung, in der die Franzosen dann keine Mühe mehr hatten mit den fassungslosen Deutschen.

Der Fluch der letzten Sekunden bescherte Heiner Brands Mannschaften in den K.-o.-Runden jeweils das Aus, Prokops Team hat nun den Vorteil, dass es weiterhin im Turnier ist und sofort aus seinen Erfahrungen lernen kann. Wobei es nicht bloß um die Gegentore in den letzten Sekunden geht: Die Dramen bahnen sich ja stets früher an; damals wie heute schafften es die deutschen Spieler nicht, eine Führung von zwei, drei Toren in den letzten fünf, sechs Minuten zu verwalten. "Am Ende entscheiden Kleinigkeiten", erinnerte der Kreisläufer Hendrik Pekeler. Gegen Russland waren das eine vergebene Großchance von Steffen Weinhold und ein verhängnisvoller Fehlpass von Paul Drux, mit deren Hilfe die Russen im Spiel blieben.

Am Dienstag war es dann im letzten Angriff ein Pass von Fabian Böhm ins Aus, wodurch die Franzosen noch einmal in Ballbesitz kamen. "Das sind natürlich die Big Points am Ende eines Spiels", sagt Kapitän Uwe Gensheimer: "Da müssen wir cooler bleiben, cleverer sein, und das Ding dann durchziehen." Rückraumspieler Fabian Böhm sprach danach von "einem kleinen Missverständnis", er wollte den Ball an Gensheimer abgeben, der jedoch schon eine andere Richtung eingeschlagen hatte. "Dadurch bringen wir uns in die Bredouille", sagte er, "das ist ärgerlich." Dabei solle man es jetzt aber belassen mit den vergebenen Siegchancen, findet DHB-Vize Bob Hanning: "Wir sollten das nicht zum Thema machen, und es wird auch nicht noch mal passieren. Wir können das abhaken."

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SZ vom 17.01.2019
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