Süddeutsche Zeitung

DFB-Team:Löws Lerngruppe schwankt zwischen Extremen

  • Dem DFB-Team geht in diesem Herbst nichts leicht von der Hand - das zeigt sich auch beim 3:0 in Estland.
  • "Wir müssen uns derzeit alles erarbeiten", sagt Marco Reus.
  • Die deutsche Auswahl sucht noch ihr Personal und ihren Spielstil.

Von Jonas Beckenkamp, Tallinn

So ein Spiel gegen elf Fußballer aus Estland kann große Überraschungen bereithalten. Zum Beispiel jene, die sich in der Halbzeit in Tallinn zutrug. Da spielte im Stadion eine estnische Sambatruppe (ja, eine estnische!) in der Fankurve des Gastgebers auf. Es trommelte und wummerte, der Rhythmus passte zum beherzten Spiel der Esten, die den großen Gast aus Deutschland so sehr geärgert hatten, wie es keiner für möglich gehalten hatte.

0:0 stand es zur Pause, die Männer vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) waren nur noch zu zehnt, und Torwart Manuel Neuer hatte ein paarmal all sein Können zeigen müssen, um Schüsse der Esten abzuwehren. Und vielleicht war es für den Bundestrainer ganz gut, dass die Samba-Balten so munter trommelten, andernfalls hätte man die "Löw-raus"-Rufe aus dem deutschen Zuschauerlager deutlicher gehört. Löw selbst hatte sie nicht vernommen, wie er erklärte, er sagte dazu aber demonstrativ gleichgültig: "Das ist ihr gutes Recht."

Wenn ein Bundestrainer in Estland Schmährufe erhält - und seien es noch so wenige - ist das allerdings schon als Zeichen zu deuten: als Zeichen akuter Unzufriedenheit. Hatte es das überhaupt schon einmal gegeben in der Amtszeit von Jogi Löw? Jedenfalls wusste auch Löw, dass der Vortrag seiner Mannschaft trotz der Steigerung nach der Pause gegen eine erschlaffende estnische Elf wieder nicht das erbracht hatte, was er sich erhofft hatte. Noch immer weiß beim DFB und in der sogenannten Öffentlichkeit keiner, was dieses überaus begabte Nationalteam eigentlich so will und mit wem und wohin die Reise überhaupt gehen soll.

Zwar kann man für dieses 3:0 und vor allem das deutsche Verzagen bis zur 45. Minute durchaus mildernde Umstände geltend machen - wegen der akuten Verletzungsprobleme, wegen der frühen roten Karte gegen Emre Can und wegen der allgemeinen Umbruchsstimmung. Aber es war schon zu spüren, dass die Beteiligten gerne mal wieder ein ganzes Spiel lang ihrer Bestimmung folgen und dominieren würden, zumal gegen den 102. der Fifa-Weltrangliste. "Es haben hier viele von unserem Stammpersonal abgesagt, so etwas ist natürlich nicht schön", sagte Marco Reus und sprach anschließend jenen Satz, der die Lage des deutschen Teams am treffendsten zusammenfasste: "Wir müssen uns derzeit alles erarbeiten."

Löws Mannschaft sucht noch an vielen Stellen ihre Ausrichtung

Leicht geht der deutschen Mannschaft derzeit nichts von der Hand - und auch nicht aus den Beinen. Halbzeit eins in Tallinn könnten Fachtrainer für ein Videostudium auf Lehrgängen anbieten - wenn man zum Beispiel zeigen möchte, wie man sich in der Offensive gegenseitig auf den Füßen steht. Da suchten sich Marco Reus, Kai Havertz, Luca Waldschmidt und Julian Brandt stets die falschen Wege aus, um durchs estnische Dickicht zu stoßen. "Wir hatten nicht so die Ideen, es ging zu viel durchs Zentrum", fand der Dortmunder Brandt, der selbst ein wenig zu viel herum rochierte und so das deutsche Positionsspiel hemmte.

Der Platzverweis in der 14. Minute führte zudem zu einigen taktischen Experimenten, die es so wohl nie wieder geben wird beim DFB: Niklas Süle schmiss den Laden hinten mitunter ganz allein, manchmal wurde er vom neuen Innenverteidiger Joshua Kimmich unterstützt, während der Stürmer Reus - absolut nicht artgerecht - zur Absicherung ins defensive Mittelfeld umzog. "Wir haben in der Pause gesagt, dass wir Ruhe bewahren und weiterspielen müssen", sagte Löw, der seinen Ärger aber nur schwer verbergen konnte. Mehrmals tigerte der Bundestrainer seine Coaching Zone entlang und schrie empört durch die kleine Arena im Tallinner Süden.

Seine Mannschaft sucht noch an vielen Stellen ihre Ausrichtung, es geht dabei nicht mal nur ums sogenannte Feintuning, sondern eher um Grundsätzliches. Im Test gegen Argentinien (2:2) hatte die Methode Überfall zumindest eine Hälfte lang geklappt, gegen Estland scheiterte Deutschland 45 Minuten mit der Devise Durchkombinieren - so schwankt Löws Lerngruppe zwischen den Extremen. Sie wirkt, als sehne sie sich nach mehr Klarheit, nach mehr Struktur, nach etwas, das viele Beteiligte später mit "besserer Raumaufteilung" umschrieben. Was im Umkehrschluss natürlich hieß, dass all dies im Augenblick nur marginal vorhanden ist.

Dieses deutsche Nationalteam ist im Herbst 2019 ein Ausbildungsbetrieb - aber bald ist eben auch schon EM, und da lässt sich schwer mit einem Team auf Identitätssuche antreten "In dieser Konstellation haben wir noch nie zusammen gespielt", lautete Manuel Neuers Erklärung für die zeitweilige Konfusion. Am Ende bleibt deshalb wohl diese Erkenntnis hängen: So eingespielt wie die estnischen Sambatypen in der Kurve ist die DFB-Elf derzeit noch lange nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4640324
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.10.2019/chge
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.