Deutsches Team bei den Paralympics:"Ihr könnt mich gerne vor den Karren spannen"

Für den Aufschwung der Deutschen bei den nun endenden Paralympics steht Gold-Sprinter Heinrich Popow: Er bringt sich in der Talentförderung ein. Er vermarktet den paralympischen Sport. Daran ändern auch die Techno-Doping-Vorwürfe von Wojtek Czyz nichts - sie waren wohl eher taktisch motiviert.

Thomas Hahn, London

Heinrich Popow hat sein linkes Hosenbein hochgekrempelt. Sein Aluminium-Knie liegt frei, und es schimmert golden wie die Medaille, die er abends zuvor gewonnen hat. "Das ist mein Präsent", sagt Heinrich Popow, der Prothesensprinter. Sonderanfertigung der Orthopädiefirma, die sein Sponsor ist, als Belohnung für seinen 100-Meter-Sieg in der Klasse der Oberschenkelamputierten bei den Paralympics in London, und gerade natürlich besonders passend, nachdem der Mannschaftskollege Wojtek Czyz ihn wegen seines angeblich exklusiven Materials kritisiert hat. "Provokant getragen", sagt Popow. Er lächelt.

2012 London Paralympics - Day 9 - Athletics

Zugpferd des paralympischen Sports: Heinrich Popow.

(Foto: Getty Images)

Er korrigiert sich gleich. "Neinnein, bin ich stolz drauf." Er hat gar nicht den Kopf für Show-Gesten jetzt, wenige Stunden nach der Siegerehrung im sonnendurchfluteten Olympiastadion. Er hat sich im Deutschen Haus in einen Sessel fallen lassen, um noch ein bisschen zu reden über seinen Erfolg und dies und das. Und gleich am Anfang hat er zum Ausdruck gebracht, wie froh er jetzt sei, wie müde und gleichzeitig verwirrt. "Ich weiß grad' nicht, wie ich das so alles verpacken soll."

Heinrich Popow, 29, aus Leverkusen ist einer von denen, durch die die Paralympics 2012 ein Erfolg geworden sind für den Deutschen Behindertensport-Verband (DBS). Elfter waren die Deutschen 2008 in Peking im Medaillenspiegel, Achter sind sie jetzt mit 18 Goldmedaillen, von denen eine sogar aus dem gescholtenen Teamsport kommt, weil die Rollstuhlbasketballerinnen am späten Freitagabend das Finale gegen Australien 58:44 gewannen.

Chef de Mission Karl Quade verzeichnete "exzellente Leistungen, auch von denen, die keine Medaille gewonnen haben". Er lobte das DBS-System mit Dienstausfall-Zahlungen an die Arbeitgeber von Topteam-Mitgliedern, Sportstellen im öffentlichen Dienst und sechs hauptamtlichen Bundestrainern ("Scheint zu funktionieren"). Und natürlich hatte er recht, niemanden aus dem 150-köpfigen Kader herauszuheben.

Aber Heinrich Popow ist tatsächlich seine eigene Nummer in dem Gefüge, und das hat nicht nur damit zu tun, dass er neben seinem Gold auch noch zwei Bronze-Medaillen (über 200 Meter und mit der Staffel) zur Plus-Bilanz beitrug. Am Beispiel von Popow kann man gut sehen, wie der paralympische Sport aus sich selbst heraus wächst. 2004 gab Popow sein Paralympics-Debüt als dreifacher Bronze-Gewinner hinter dem damaligen Spiele-Star und Dreifach-Sieger Wojtek Czyz. Czyz zeigte damals ein paar Allüren, Popow war der bodenständige Sunnyboy, der sich als eine Art paralympischer Aufklärer zur Verfügung stellte, Referate über seine Prothese hielt und bereitwillig die Kniffe des Behindertendaseins beschrieb.

Förderer seiner Disziplin

Heinrich Popow kann man immer noch alles fragen, was man je über das Thema Stumpf und Prothese wissen wollte. Wer neugierig ist, wie das damals war, als er mit neun sein Bein an den Krebs verlor - bitte. Aber längst ist Popow auch ein Förderer seiner Disziplin. Weitsprung-Paralympicssieger Markus Rehm hat er zum Sport gebracht, ebenso den Staffel-Kollegen David Behre, dessen erste Sprintprothese aus zwei alten Popow-Federn bestand. Popow bringt sich in der Talentförderung ein. Er besucht Krankenhäuser. Er vermarktet den paralympischen Sport mit seinem Mutterwitz, ohne dabei oberflächlich zu werden. Er sagt: "Ihr könnt mich gerne vor den Karren spannen."

Es wirkte ein bisschen ungerecht, dass Popow ins Fadenkreuz geriet, als Czyz nach dem 100-Meter-Vorlauf mit dem Vorwurf des Technodopings um sich schoss. Popow tüftelt in der Tat akribisch an seiner Prothese, "um die Behinderung so leicht wie möglich zu machen". Natürlich reicht er dabei nicht jede Entwicklung direkt an die Konkurrenz weiter, so ist das nun mal, wenn die Materialregeln weich sind. Am Ende brachte Czyz wegen der Tirade gegen Popow gar nicht richtig rüber, was er eigentlich hatte tadeln wollen, nämlich die Willkür des Internationalen Paralympischen Komitees bei seiner Prothesenpolitik.

"Noch nie hat jemand meine Prothese angeschaut. Es ist für alles Tür und Tor geöffnet. Das kann nicht sein", sagte Czyz in der ARD. Popow stimmt zu: "Wir befinden uns im Behindertensport in der Entwicklung, da gibt es Punkte, die zu regeln sind." Dass Czyz persönlich wurde, deutet Popow als psychologische Wettkampfführung. "Der hat mich als Person dafür benutzt, um diese Regel ins Gespräch zu bringen."

Das 100-Meter-Gold ist Popow wichtig gewesen. Er hat seine Mission als Vorbild, und die möchte er mit Leben füllen, indem er was vorzuweisen hat. Die Kinder mit Behinderung müssen zum Sport, findet Popow. Ihm sind die vielen deutschen Jugendlager bei den Paralympics aufgefallen ("Weltklasse"), aber das ändert ebenso wenig wie die gute Paralympics-Bilanz am Grundproblem im aktuellen Sportsystem. "Wenn du irgendwo im Dorf lebst, hast 'ne Amputation und fragst bei einem normalen Dorfverein an, ob du bei der Leichtathletik mitmachen kannst, heißt es, nee, Behindertensport machen wir nicht."

Popow hat es als Junge selbst erlebt. Daheim in Hachenburg, Westerwald, ehe er zu Bayer Leverkusen wechselte, wo er heute unter Coach Karl-Heinz Düe in der Gruppe mit der Siebenkampf-WM-Zweiten Jennifer Oeser trainiert. Popow weiß selbst nicht so genau, wie man das Problem in den Griff kriegt. Er setzt auf den Verband. Aber er hat Lust mitzuhelfen. "Wir können motivieren", sagt er, "wir können Vorbilder sein."

Es gibt Fragen zur Prothese. Tut die weh? Wie fühlt sie sich an? "Jetzt komm'", sagt Popow, "ich zeig' Euch das." Schon hat er die Prothese mit dem goldenen Knie in der Hand. Zieht den Silikonstrumpf ab. Zeigt sein Bein, das nur noch aus einem dürren, spitz zulaufenden Oberschenkel besteht. Er hat seine Kniescheibe noch und kann sie bewegen, was ein bisschen gruselig aussieht. Er zeigt, wie er die Prothese wieder anlegt und mit Unterdruck über ein Ventil am Schenkel befestigt. Er sagt: "So wie du deine Ferse auf dem Boden fühlst, so fühle ich die Prothese." Heinrich Popow nimmt sich Zeit für das Thema, er wirkt gar nicht mehr müde. Die Paralympics sind aus, aber die Aufklärung geht weiter.

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