Deutscher Sieg bei der Handball-WM:Plötzlich auf dem Fahrersitz

Die deutschen Handballer befreien sich gegen Russland aus großer Not und gewinnen auch ihr zweites Spiel bei der WM in Katar. Das Achtelfinale ist in greifbarer Nähe - viel früher als erwartet.

Von Joachim Mölter, Doha

Die Russen hatten den Ball, einen Mann mehr auf dem Feld und noch 34 Sekunden Zeit, um den Ausgleich zu schaffen - es war klar, was passieren würde. Sie passten den Ball von links nach rechts und hin und her, um die nach einer Zeitstrafe für Michael Kraus dezimierte Abwehr der deutschen Handballer auseinanderzuziehen, bis sich ein Raum auftat zum Wurf. Dann kam der Pass von Spielmacher Pawel Atman auf den frei stehenden Rechtsaußen Daniel Schischkarew. Der Ball kam bloß viel zu hoch, selbst für einen 1,90- Meter-Mann. Schischkarew hätte schon ein ungefähr 2,20 Meter großer Basketballer sein müssen, um ihn zu fangen. Der Ball flog also ins Aus, die Schlusssirene trötete, und die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) hatte gewonnen, 27:26 (9:13). Die Spieler hüpften im Kreis, als hätten sie schon was erreicht bei der Weltmeisterschaft in Katar. Dabei hatten sie bloß ihr zweites Gruppenspiel gewonnen. "Vier Punkte auf der richtigen Seite", sagte der sechsfache Torschütze Patrick Groetzki. Das heißt: Ein Sieg in den verbleibenden Vorrundenspielen gegen den WM-Zweiten Dänemark (Dienstag, 19 Uhr), Panamerika-Meister Argentinien (Donnerstag, 17 Uhr) und Außenseiter Saudi-Arabien (Samstag, 17 Uhr/alle Spiele live auf Sky) reicht, um das Achtelfinale zu erreichen; mit zwei Erfolgen kann sich das DHB-Team sogar eine prima Ausgangsposition für die K.o.-Runde sichern. Diese Aussichten waren mehr, als nach zwei Spielen zu erwarten gewesen war. Gegen Russland begann Bundestrainer Dagur Sigurdsson am Sonntagabend mit der gleichen Aufstellung wie beim 29:26 am Freitag gegen Polen, also erneut mit Silvio Heinevetter im Tor, obwohl der wenig gehalten hatte im Auftaktspiel, ehe er gegen Carsten Lichtlein ausgetauscht wurde. Diesmal wehrte Heinevetter gleich einen Siebenmeter von Dimitri Kowalew ab. Das war ein vielversprechender Start, leider trafen Heinevetters Vorderleute diesmal schlechter als im Auftaktspiel. Nur selten fanden sie eine Lücke in der offensiv ausgerichteten Abwehr der Russen, nicht einmal, wenn diese in Unterzahl waren. Trainer Sigurdsson schickte nacheinander alle Rückraumspieler aufs Feld - ohne Erfolg. "Wir sind zu wenig in die Zweikämpfe gegangen", resümierte Kraus selbstkritisch. "Viel zu passiv und ohne letzte Konsequenz", pflichtete Sigurdsson bei.

Wäre auf Linksaußen nicht Uwe Gensheimer gewesen, hätte es zur Pause wohl übel ausgesehen. Weil der insgesamt neunmal erfolgreiche Kapitän in den ersten 30 Minuten immerhin viermal getroffen hatte, lag sein Team nur 9:13 zurück, als es in die Kabine ging. Aus der kam es trotzdem mit neuem Mut heraus. "Dagur hat anscheinend die richtigen Worte gefunden und uns heiß gemacht", erzählte der vierfache Torschütze Patrick Wiencek.

Sigurdsson trifft die richtigen Entscheidungen

Die deutschen Rückraumspieler verlagerten nun das Spiel weiter nach außen und stießen von dort nach vorne. "Wir sind dahin gegangen, wo's weh tut", sagte Kraus. Schon nach fünf Minuten glichen die Deutschen aus (14:14), weitere fünf Minuten später gingen sie erstmals in Führung (18:17). "Von da an saßen wir auf dem Fahrersitz", formulierte es Sigurdsson, "und konnten uns darauf halten." Der Isländer war sichtlich erleichtert darüber. "Ich habe schon nach der Gruppen-Auslosung kein gutes Gefühl gehabt", bekannte er seinen Respekt vor den wieder erstarkten Russen. Deren Trainer Oleg Kuleschow, 40, einst Spielmacher beim SC Magdeburg, als dieser die deutsche Meisterschaft (2001) und die Champions League (2002) gewann, sowie sein Assistent Alexander Rymanow, 55, der fast zwei Jahrzehnte als Spieler und Trainer in Deutschland tätig gewesen ist, hatten im März 2012 ja quasi ein gesunkenes Schiff übernommen und flott gemacht: Russlands ruhmreiche Handballer - viermal Olympiasieger und dreimal Weltmeister, wenn man die Erfolge der Sowjetunion und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten dazurechnet - hatten da gerade die WM 2011 in Schweden verpasst und dadurch auch Olympia 2012 in London.

Kuleschow und Rymanow haben den Spielstil der Mannschaft verändert, weg von dem, was Sigurdsson als "Macho-Handball" bezeichnet: breit gebaute Zwei-Meter-Männer, die den Ball notfalls aus dem hintersten Rückraum ins Tor donnern können. Und hin zu einem beweglichen, flexiblen Angriff, der auf schnellen Gegenattacken basiert.

Damit stellten sie die deutsche Auswahl vor Probleme, die Trefferausbeute war gleichmäßig auf alle Positionen verteilt - das machte das vom einzigen Bundesliga-Legionär Konstantin Igropulo (Berlin/sechs Tore) angeführte Team schwer berechenbar. Aber bereits gegen Polen hatte Dagur Sigurdsson im richtigen Moment die richtigen Änderungen vorgenommen, gegen die Russen gelang ihm das erneut. Als das Spiel noch auf der Kippe stand, schickte er zum Beispiel wieder Lichtlein ins Tor. Prompt leitete der mit einer spektakulären Parade einen Gegenstoß ein, der mit einer Zeitstrafe gegen die Russen und einem Siebenmeter durch Gensheimer endete. Danach schafften die Russen den Ausgleich nicht mehr.

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