Süddeutsche Zeitung

Deutsche Zehnkämpfer bei der Leichtathletik-EM:Ohne Rücksicht auf Eitelkeiten

Ein Musterschüler, ein Ausdauernder und ein Rückkehrer: Die deutschen Zehnkämpfer Kai Kazmirek, Rico Freimuth und Arthur Abele zeigen bei der Leichtathletik-EM in Zürich Erstaunliches. Und jeder prägt die Wettkämpfe auf seine eigene Weise.

Von Johannes Knuth, Zürich

Die Freude der Zehnkämpfer an ihrem Beruf kann manchmal wie ein Sog wirken, im besten Fall spült er die ganze Mannschaft an die Spitze, das hat der Zehnkämpfer Arthur Abele bei der Leichtathletik-EM in Zürich wieder festgestellt.

Abele hatte gerade die 400 Meter, die letzte Übung des ersten Wettkampftages, hinter sich gebracht. Er hatte sich an dritter Stelle im Gesamtklassement eingereiht, zwei Plätze hinter seinem Mannschaftskollegen Kai Kazmirek, hinter ihnen lauerte Rico Freimuth, der dritte deutsche Zehnkämpfer. "Jeder von uns schreibt hier seine eigene Geschichte", sagte Abele, "jeder strahlt so viel Power aus, und das pusht dann wieder die anderen."

Es waren tatsächlich drei erstaunliche Mehrkampf-Geschichten, die Abele (5./8477 Punkte), Kazmirek (6./8471) und Freimuth (7./8356) beim Sieg des Weißrussen Andrei Krauchanka (8616) am Dienstag und Mittwoch im Züricher Letzigrund vortrugen.

Sie hatten sich freilich mehr vorgenommen nach den famosen Darbietungen vom ersten Tag. Viel wichtiger aber war, dass die Zehnkämpfer zwei Jahre nach dem EM-Gold von Pascal Behrenbruch ein weiteres Signal absetzten: Der deutsche Zehnkampf hat sich rund ein Jahrzehnt nach einem schweren Tief grundlegend stabilisiert, er hat in Zürich auch ohne den formschwachen Behrenbruch drei Athleten entsandt, die den Wettkampf auch ohne Medaille prägten - jeder auf seine Weise.

Da war zum einen Kai Kazmirek von der LG Rhein-Wied, der Musterschüler. Kazmirek hatte die Fachwelt im Juni beim Mehrkampf-Meeting in Götzis, einer Art inoffizieller WM der Zehnkämpfer, mit 8471 Punkten und Platz zwei beeindruckt. Er war mit der besten Referenz aller Starter zur EM gereist, auch wenn Kazmirek, 23, die Favoritenrolle stets von sich gewiesen hatte: Er bestreite sein erstes Großereignis bei den Erwachsenen, richtete er aus, das möge man bitte schön berücksichtigen.

Geradlinig und unaufgeregt

Wenn sie sich beim DLV einen Athleten zusammenbauen könnten, er würde ziemlich viele Ähnlichkeiten mit diesem Kai Kazmirek aufweisen. Der 23-Jährige hat artig den Nachwuchsbetrieb des DLV durchlaufen, er gewann Bronze bei der U20-EM, Gold bei der U23-EM, kurz darauf überschritt er wie selbstverständlich die 8000-Punkte-Schwelle, die Zugangsberechtigung für die Erwachsenen.

Kazmirek ist ehrgeizig, aber nicht übermotiviert wie der in Zürich - mal wieder - malade Michael Schrader. Zuletzt justierte er seine Saisonplanung auf Anraten von Bundestrainer Rainer Pottel, "er lässt sich überall helfen", stellte Pottel zuletzt fest - was Kazmirek von Behrenbruch unterscheidet, der mit seinem sperrigen Ego immer ein wenig fremdelt in der familiären Welt der Mehrkämpfer.

Geradlinig, unaufgeregt spulte Kazmirek in Zürich sein Pensum ab. Über die 100 Meter, im Weitsprung, über die 110 Meter Hürden und im Speerwurf verbesserte er seine persönlichen Bestmarken, in den anderen Disziplinen kam er zumindest in die Nähe seiner Hausrekorde.

Kai Kazmirek meisterte souverän die kleineren Tücken, die ihm die zwei Tage präsentierten, im Weitsprung bestimmten die Kampfrichter seine Weite zunächst falsch, nach dem Hochsprung musste er sofort zum 400-Meter-Lauf antreten. Allein die Sturmböen beim Stabhochsprung brachten ihn nachhaltig aus dem Konzept, 4,60 Meter waren unter der Norm, und die starke Konkurrenz nutzte die kleine Schwächephase konsequent.

Dann war da Rico Freimuth, 26, der Ausdauernde. Freimuth hatte den DLV bei den vergangenen vier Großveranstaltungen zuverlässig vertreten, zuletzt war er Sechster bei den Olympischen Spielen 2012 in London sowie Siebter bei der WM 2013 geworden. In Zürich sollte es nun möglichst eine Medaille werden. Freimuth hing zunächst ein wenig hinter seinen Teamkameraden zurück, aber er profitierte bald von dem Sog, den Abele und Kazmirek entfachten.

Am zweiten Tag behielt er als einziger deutscher Starter beim Stabhochsprung die Ruhe. Als der Wettkampf wegen Sturmböen unterbrochen und zwei Stunden später wieder aufgenommen wurde, überquerte Freimuth im letzten Versuch 4,80 Meter. Erst ein mäßiger 1500-Meter-Lauf zum Abschluss verwehrte ihm die Medaille.

Eine Krankenakte wie eine Medizin-Vorlesung

Und schließlich Arthur Abele, 28 der Rückkehrer vom SSV Ulm 1846. Mithilfe von Abeles Krankenakte könnte man problemlos eine Medizin-Vorlesung bestreiten. Sechs Jahre hat der einstige WM-Starter wegen diverser Verletzungen verpasst, drei Jahre wegen einer fiesen Schambein-Entzündung. In Zürich bewegte sich Abele nun mit großen Augen durch den Letzigrund, stellte persönliche Bestmarken auf, flirtete ausgiebig mit der Kamera.

"Ich sauge gerade alles nur auf", sprudelte es nach dem ersten Tag aus ihm heraus. "Das war wie eine Droge, die mir gefehlt hat. Heute habe ich die volle Dröhnung gekriegt." Und Platz drei zur Halbzeit, sagte Abele, "das macht mir fast ein wenig Angst". Als der Streit um die Medaillen entbrannte, verkrampfte Abele dann ein wenig, Platz fünf war aber wie ein Sieg über seine lange Leidensgeschichte.

Am Ende waren die Zehnkampf-Tage in Zürich auch ein Erfolg für Rainer Pottel. Der Bundestrainer versucht seit einiger Zeit, jedem Athleten einen individuellen Matchplan mitzugeben, in Abstimmung mit den Heimtrainern, ohne Rücksicht auf Eitelkeiten. Nicht alle Athleten nehmen diese Idee an, doch in Kazmirek, Freimuth und Abele hatte Pottel der Leichtathletik-Welt in Zürich drei Athleten präsentiert, die diesen Gedanken zu großen Teilen in sich tragen. Auch wenn der Sog, den sie entfacht hatten, niemanden auf einen Medaillenplatz spülte.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2014
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