Deutsche Turner wollen Medaille:Auffänger für den Gestürzten

Der WM-Zweite Philipp Boy verpasst das Mehrkampf-Finale der Kunstturner und verstaucht sich zudem das Sprunggelenk. Dabei brauchen ihn die Kollegen noch für den Team-Wettbewerb am Abend, denn die starken Fabian Hambüchen und Marcel Nguyen wecken Hoffnungen auf die ersehnte Medaille.

Volker Kreisl

Im Grunde ist die Rechnung einfach. Marcel Nguyen erzählt, wie sie sich das gegenseitig immer wieder klar gemacht hatten, weil es unumstößlich war. Nguyen teilt sich mit Philipp Boy ein Zimmer im Olympischen Dorf, und da sei genügend Zeit gewesen zu reden: "Wir haben uns schon vorher darauf eingestellt." Darauf nämlich, dass im Mehrkampf höchstens zwei Turner einer Nation ins Finale kommen dürfen, aber beispielsweise drei Deutsche in etwa die gleiche Punktzahl erreichen könnten, also einer auf der Strecke bleibt.

Die Qualifikation kam, und die einfache Rechnung führte zu außergewöhnlicher Niedergeschlagenheit. Es traf den WM-Zweiten von 2010 und 2011, Philipp Boy. Untröstlich war er, "ich war in meinem Leben noch nicht so enttäuscht", sagte er. Denn während Marcel Nguyen und Fabian Hambüchen nachher frohlockten über einen Abend, der ihnen alle erhofften Final-Teilnahmen beschert hatte, ist Boy leer ausgegangen. Nguyen steht außer im Mehrkampf- noch im Barren- und Bodenfinale, Hambüchen hat seine Chance auf Olympia-Gold am Reck bewahrt. Boy dagegen hat auch das Reckfinale verpasst.

Was ihm bleibt, ist ein Beitrag für die Medaillenambitionen des Teams am Montag, denn ohne Boy würden den Deutschen entscheidende Punkte fehlen. Doch ob er diesen Beitrag in gewohnter Form bringen kann, auch das ist seit Samstag fraglich. Boy ist verletzt, er hat sich das rechte Sprunggelenk verknackst. Zum Gesamtdilemma des Cottbusers sagte Bundestrainer Andreas Hirsch: "Ihn selbst ärgert es am meisten. Aber wir müssen sehen, dass wir ihn für das Teamfinale wieder auffangen."

Kaum aufrichten dürfte es ihn, dass sein Auftritt die für Olympia typische Unsicherheit vieler Favoriten spiegelte. Vier Jahre Arbeit für wenige Sekunden - was auf dem Spiel steht, wird manchen Athleten doch recht unvermittelt klar. "Du kommst in die dunkle Halle, dann geht das Licht an, da kriegst du Gänsehaut", sagte Nguyen. Japans Kohei Uchimura ist Top-Anwärter auf einen ganzen Satz Gold-Medaillen, doch auch er verpasste nach einem krachenden Sturz das Reckfinale.

Die Chinesen wiederum verfügen über viele Spitzenturner, doch in der Vielseitigkeit haben sie offenbar schon aufgegeben. Sie stellen keinen Mehrkämpfer - womöglich, weil es ihnen um den Sieg geht, und sie gegen Uchimura keine Chance sehen.

Der Schmerz kam zurück

Boy war geschätzte sieben Sekunden im Wettkampf, da war es im Grunde schon aus. Nach seinem 7,0-Punkte-Sprung, zwei Salti mit halber Drehung, spürte er sofort ein Knacksen und fasste sich an das Sprunggelenk. Es folgten die typischen, immer verzweifelteren Maßnahmen: dehnen, kühlen, aufstehen, humpeln, vorsichtig belasten, hoffen, dass der Schmerz schnell nachlässt. "Es wurde kurz besser, aber mit jeder Übung kam der Schmerz zurück", sagte Boy.

Die Gesamtkonzentration stimmte nicht mehr, am Reck stürzte er, nicht beim riskanteren Cassina, sondern beim Markelov, und dann stand die Frage im Raum: Wie soll man mit diesem Fuß die Boden-Übung turnen? Da fühlte und tastete der Physiotherapeut, da klopften die Kollegen auf den Rücken, aber entscheiden konnte das nur der Besitzer des Fußes selbst, und wohl nur weil dies Olympia war, schleppte sich Boy hinauf und brachte es immerhin mit einem Resultat von 14,766 Punkten hinter sich. Das Mehrkampf-Finale hatte er zu diesem Zeitpunkt längst verpasst.

Danach sagten alle, nun müsse man sich sammeln und versuchen, Boy zu unterstützen, aber wie genau, war nicht klar. Die Lage war für die Deutschen, bei denen es nie eine solche Zuspitzung eines internen Wettkampfs gegeben hatte, eben neu. Nguyen sagte: "In so einer Situation lässt man ihn jetzt wohl erstmal in Ruhe." Boy sagte: "Es wird schon hoffentlich Gespräche geben, dafür ist ein Team ja da." Hambüchen sagte: "Am besten lässt man ihn jetzt erst mal in Ruhe."

Vorausgesetzt, Boy erholt sich, sind die Medaillenchancen geblieben. Zum einen, weil sich Hambüchen in exzellenter und Nguyen in starker Verfassung präsentierte - und die Ersatzleute Sebastian Krimmer und Andreas Toba zumindest Solides zeigten. Zum anderen, weil der Endstand dieser Qualifikation kaum aussagekräftig ist. Die Liste der ersten sechs Teams steht gewissermaßen auf dem Kopf.

Auf Platz eins, zwei und drei lagen die USA, Russland und Großbritannien, drei Mannschaften, denen fast alles gelang; dann Deutschland, ein Team, dem viel zu viel misslang und das weit mehr erreichen kann als 270,88 Punkte; und dahinter, auf fünf und sechs, Japan und China, die Mannschaften, die sich, wenn es darauf ankommt, vermutlich alleine um Gold streiten werden.

Das jedenfalls glauben alle Experten, unter anderem auch Bundestrainer Hirsch. Mit etwas Glück tritt sein Team mit einem wiederaufgerichteten Philipp Boy an die Geräte, und die ersten Sechs vom Montag sind exakt umgekehrt die ersten Sechs vom Samstag. Für die Deutschen - deren Frauenriege am Sonntagabend als enttäuschende Neunte das Teamfinale verpasste - wäre das auch eine einfache, wenn auch erfreulichere Rechnung.

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