Süddeutsche Zeitung

DFB-Team:Baywatch am Schwarzen Meer

  • Aus Sicht des deutschen Fußballs stand Sotschi bisher für Glück, Harmonie und unermesslichen Reichtum. Vor einem Jahr gewann von dort aus eine junge deutsche Nationalmannschaft den Confederations Cup.
  • Nun zieht das DFB-Team für fünf Tage von Watutinki nach Sotschi, doch die Stimmung ist nach dem 0:1 gegen Mexiko gedrückt.
  • Joachim Löw muss als Krisenhelfer tätig werden und wird sehr genau zur Kenntnis nehmen, dass der Plan des Watutinki-Befürworters Oliver Bierhoff möglicherweise nicht aufgeht.

Von Christof Kneer, Sotschi

Vielleicht wird man Joachim Löw jetzt wieder beim Joggen am Strand sehen. Vielleicht wird er wieder an einer Anlage vorbeilaufen, in der die Fernsehreporter wohnen, und vielleicht wird er dann wieder einen kurzen Boxenstopp einlegen, um mit einem der Reporter einen freundlichen Smalltalk zu halten. Vielleicht werden Leon Goretzka und Timo Werner wieder im Strandcafé sitzen, und Julian Brandt wird wieder ins Meer springen. Vielleicht wird Antonio Rüdiger wieder als Einziger die Hotelanlage nicht verlassen, und vielleicht wird er nachher wieder Witze darüber machen. Bestimmt isst Urs Siegenthaler wieder ein Eis.

Bilder können manchmal gemein sein, selbst wenn es schöne Bilder sind. Am Dienstag hat der Tross der deutschen Nationalmannschaft für fünf Tage sein Quartier verlegt, von Watutinki im Südwesten Moskaus hinunter nach Sotschi ans Schwarze Meer, wo am Samstagabend ab 20 Uhr das zweite Vorrundenspiel gegen Schweden zur Austragung kommt.

Sotschi ist nicht irgendein Ort, Sotschi kann rechts wie links, es kann Olympische Winterspiele und Sommer-Fußball-WM. Aber aus Sicht des deutschen Fußballs ist Sotschi vor allem ein Symbol: Sotschi steht für Glück, Harmonie und unermesslichen Reichtum. Vor einem Jahr gewann von dort aus eine junge deutsche Nationalmannschaft den Confederations Cup, eine Art Generalprobenturnier für die große WM, und nachher blickte die Welt mit neidischer Bewunderung auf diesen fast schon anstößigen Überfluss an Talenten.

Dieser Werner, dieser Goretzka! Und dieser Abwehrspieler heißt Ginter, oder? Und dieser Rudy im defensiven Mittelfeld, ist der etwa auch noch jung?

Eingetreten ist das Gegenteil dessen, was geplant war

All diese Spieler sind ein Jahr später auch wieder dabei, der Bundestrainer mit den Laufschuhen im Gepäck ebenfalls, der Chefscout Siegenthaler sowieso. Und doch ist alles anders jetzt, auf einmal wirkt die Sotschi-Reise ein bisschen wie das Auftaktspiel gegen Mexiko: Eingetreten ist das Gegenteil dessen, was geplant war.

Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, dass der Genussmensch Löw das DFB-Camp für die komplette Zeit am Schwarzen Meer aufschlagen wollte, während die Verbandslogistiker gemeinsam mit dem Quartiermeister Oliver Bierhoff am Ende gegen Löws Willen dieses kuriose Watutinki durchsetzten, das nicht am Meer sowie am Fuße der schneebedeckten Gipfel des Kaukasus liegt, sondern an der Stadtautobahn sowie am Fuße der staubbedeckten Plattenbauten von Watutinki.

Oliver Bierhoff hat vor allem logistische Gründe ins Feld geführt, und am Ende ist ihnen zur Befriedung des Konflikts noch ein Kompromiss eingefallen, auf den sie alle recht stolz waren: Vor dem zweiten Gruppenspiel in Sotschi würde man nicht einen oder zwei, sondern gleich vier Tage vorher an den Spielort fliegen.

Der Genussmenschtrainer hätte dort seinen Cappuccino am Meer und seinen Lauf am Strand, und seine Spieler könnten nach einem Auftaktsieg gegen Mexiko ein wenig Seele und Beine baumeln lassen. Und die jungen Confed-Cup-Gewinner würden sich mit einem versonnenen Lächeln zurückerinnern und den älteren Spielern, die nicht dabei waren, davon erzählen. Die älteren Spieler würden dann stolz und beglückt und motiviert sein, und alle gemeinsam würden sie dann die Schweden besiegen, 4:0 oder so.

Die Realität ist nun aber so, dass sich Sotschi für den DFB anfühlen muss wie die Klosterpforte für den HSV. Dieses ostwestfälische Quartier haben die Verantwortlichen des Hamburger Bundesligisten gern gebucht, wenn die Mannschaft mal wieder auf den Relegationsplatz zurückgefallen war, nach einem 0:4 gegen den FC Augsburg möglicherweise. Nach dem 0:1 gegen den FC Mexiko fühlt sich nun auch Deutschland im Abstiegskampf. Aus dem Erfrischungsaufenthalt in Sotschi ist plötzlich ein Krisentrainingslager geworden.

Man wird nun abwarten müssen, was die schönen Bilder unter den neuen Umständen in den Seelen und Beinen der deutschen Spieler auslösen werden. Die Bilder aus der Vergangenheit werden gewiss wieder verklärt werden, auch deswegen hat es das arme Watutinki ja so schwer: Weil es nicht nur mit Sotschi, sondern immer auch mit diesem unvergleichbaren Campo Bahia in Brasilien verglichen wird.

Vor allem Löw dürfte es erst mal schwerfallen, seinen Sehnsuchtsort zu genießen: Erstens muss er in Sotschi völlig unvorhergesehen als Krisenhelfer tätig werden, er muss die Rettungsringe auswerfen und ein bisschen Baywatch spielen. Und zweitens wird er sehr genau zur Kenntnis nehmen, dass der Plan des Watutinki-Befürworters Bierhoff möglicherweise nicht mal aufgeht. Der Manager hatte das Team ja auch deshalb in unmittelbarer Hauptstadtnähe einquartiert, weil im Moskauer Luschniki-Stadion ein Halbfinale sowie das Finale steigen. So hätten die Deutschen in der entscheidenden Turnierphase keinen Reisestress, sie könnten schön in ihrem Watutinki üben und den Gegnern beim anstrengenden Hin- und Herfliegen zuschauen.

So wird es allerdings nur kommen, wenn die deutsche Mannschaft ihre Vorrundengruppe F als Tabellenerster abschließt. Kommen die Deutschen nach der Niederlage gegen Mexiko aber nur als Zweiter weiter, landen sie in einem anderen Eckchen des Turniertableaus und müssten zum Halbfinale eine lange Reise gen Norden nach St. Petersburg auf sich nehmen.

Spätestens dann würde sich Joachim Löw daran erinnern, dass es auch Oliver Bierhoff war, der ihm Sotschi ausgeredet und dafür einen Plan angedreht hat, der nicht funktioniert.

Und übrigens: Sollten die Deutschen in ihrer Gruppe gar nicht weiterkommen, dann wäre Sotschi für den deutschen Fußball auch wieder ein Symbol, aber eher nicht mehr für den Confed-Cup-Sieg. Sondern dafür, dass 2018 irgendetwas gewaltig schiefgelaufen ist - und das nicht nur bei der Buchung dieser Russland-Reise.

WM-Spielplan 2018

Unser WM-Spielplan 2018 bietet Ihnen alle Spiele auf einen Blick. Sie können sich auch Ihren eigenen Plan ausdrucken - auf DIN A3 oder DIN A4.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4022816
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.06.2018/ska/cat
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.