Deutsche Nationalmannschaft:Sehnsucht nach Seeler

Der derzeit vor Kraft strotzende deutsche Fußball leidet an einer Mangelerscheinung, die bisher kaum auffällt: Im Sturm, wo aus dem schönen Spiel ein Ergebnissport wird, fehlen die Talente.

Christof Kneer

Tobias Rühle ist eingewechselt worden am Wochenende, er kam zur Halbzeit und hat laut unabhängigen Augenzeugenberichten recht ordentlich gespielt. Lennart Thy habe weniger überzeugt, hört man, torlos blieben jedenfalls beide, wie auch Richard Sukuta-Pasu, der für seine Torlosigkeit allerdings Gründe anführt, die man akzeptieren kann. Er fehlte am Wochenende verletzt.

Deutschland - Aserbaidschan

Gilt er noch als Zukunftshoffnung im deutschen Sturm, oder ist er schon zu alt dafür? Mario Gomez, 25.

(Foto: ddp)

Diese drei Spieler haben nichts zu tun mit dem deutschen A-Aufgebot, das Bundestrainer Löw am Montag erstmals nach der WM um sich versammelte. Den drei Spielern kann man das nicht vorwerfen, sie sind 18 (Thy), 19 (Rühle) und 20 (Sukuta-Pasu) Jahre alt, und sie spielen bei Werder Bremen II (Thy), dem VfB Stuttgart II (Rühle) und dem FC St. Pauli (Sukuta-Pasu). Das Problem der drei Spieler ist aber, dass sie bei der nächsten WM eine Menge mit der A-Nationalmannschaft zu tun haben sollten. Das wäre besser für sie. Und vor allem wäre es besser für die A-Nationalmannschaft.

Kleiner Etikettenschwindel

Sieht man es positiv, dann könnte man sagen, dass die Karriere-Aussichten selten so verlockend waren für junge Mittelstürmer wie Rühle, Thy oder Sukuta-Pasu. Als der DFB in der vergangenen Woche seine beiden wichtigsten Länderspielaufgebote veröffentlichte, erkannten ja selbst Laien diese medizinisch kuriose Mangelerscheinung. Wer dem deutschen Fußball ein aktuelles Blutbild erstellt, wird feststellen, dass der deutsche Fußball zurzeit kerngesund ist. Er strotzt vor Kraft, hat fast überall Bilderbuchwerte. Nur ein Parameter fällt ein bisschen aus dem Rahmen. Im Sturm muss der Patient sich noch mal checken lassen. Die Sturmwerte sind erstaunlich schlecht.

Mario Gomez und Patrick Helmes bilden in dieser Woche den Notsturm der A-Nationalelf, die U21 repräsentieren Julian Schieber, Richard Sukuta-Pasu und Lewis Holtby. Letzterer ist sogar ein bisschen geschummelt, denn Holtby ist ungefähr so sehr Stürmer wie Manuel Neuer Innenverteidiger ist. Holtby, ein offensiver Flügelmann, ist ebensowenig ein klassischer Angreifer wie Thomas Müller oder Lukas Podolski, die der DFB in seinem WM-Kader unter "Sturm" führte. Auch das war ein bisschen geschummelt.

In Südafrika hat man dem deutschen Spiel den kleinen Etikettenschwindel kaum angesehen, aber Trainer und Strategen im Verband wissen längst, dass da vorn ein Problem lauert, von dem die Fanmeilen noch nichts mitbekommen haben. Dort, wo aus dem schönen Spiel ein Ergebnissport wird, in der Sturmspitze, ist der deutsche Fußball perspektivisch "nur bedingt gut aufgestellt", wie Sportdirektor Matthias Sammer einräumt. In zwei Jahren wird Löw vielleicht ein letztes Mal auf die Turnier-Instinkte von Miroslav Klose, 32, vertrauen können, vielleicht wird bis dahin auch Mario Gomez wieder in jene Karriere zurückfinden, die er einstweilen verlassen hat. Aber sonst? Bleiben der tapfere Rackerer Stefan Kießling, 26, der etwas eindimensionale Schnellschütze Patrick Helmes, 26, der rätselhafte Halbstürmer Lukas Podolski, 25, sowie der fröhliche Cacau, 29, bei dem keiner weiß, ob er zu dauerhafter Spätblüte gefunden hat oder ob sein munteres Spiel irgendwann wieder in sich zusammenfällt. Kevin Kuranyi gibt's noch, aber der gilt ja irgendwie nicht. Und dann kommt schon Julian Schieber, 21, Chefangreifer der U21, ein Gomez-artiges Wesen, gesegnet mit imposantem Körperbau und monströsem Linksschuss.

Kreative Zwischengeschöpfe

Hinter Schieber kommt erstmal nur die Hoffnung. Die Hoffnung auf Richard Sukuta-Pasu etwa, "von dem wir uns den Durchbruch erwarten", wie Sammer sagt; die Hoffnung auf U20- oder U19-Junioren wie den Stuttgarter Rühle, den Bremer Thy oder den von 1860 München zu Hoffenheim gewechselten Peniel Mlapa, 19, einen 1,95 Meter langen Menschen, der laut Sammer "sehr, sehr gute Voraussetzungen mitbringt". Und ganz allgemein die Hoffnung darauf, "dass junge Stürmer oft über Nacht einen Entwicklungsschub bekommen", wie U21-Trainer Rainer Adrion meint.

Der moderne Fußball hat auch im Land der Seelers und Müllers, der Hrubeschs, Völlers und Klinsmänner kreative Zwischengeschöpfe entstehen lassen, Halbstürmer, Flügelstürmer, hängende Spitzen. "Das hat aber nichts damit zu tun, dass wir den zentralen Mittelstürmer nicht mehr wollen", sagt Sammer. Sie wollen ihn sogar sehr, sie haben Sehnsucht nach einem modernen Seeler, sie bilden diesen Spielertypen ja ganz bewusst aus. "Im Nachwuchsbereich forcieren wir das Spiel mit mindestens einer klaren Spitze", sagt Sammer.

Sie sind sich keines strategischen Fehlers bewusst beim DFB, und es tröstet sie, "dass andere Nationen auf dieser Position auch zu kämpfen haben", wie Sammer sagt. Er denkt an die Holländer, die Robin van Persie wenig artgerecht in der Sturmzentrale verwenden, und an die Spanier, die bei der WM auch keinen Mittelstürmer fanden, um den formschwachen Fernando Torres zu ersetzen. "Das hat auch der Halbstürmer Villa gemacht", sagt Sammer. Ein Trost ist übrigens auch, dass die Spanier trotzdem Weltmeister wurden.

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