Deutsche Nationalmannschaft:Plötzlich ohne Anführer

Italy v Germany - International Friendly

Ratlos in Mailand: Wer ersetzt Sami Khedira im zentralen Mittelfeld?

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Nach seinem Kreuzbandriss stehen die Chancen von Sami Khedira auf die WM in Brasilien sehr schlecht. Auf den ersten Blick scheint das üppig bestückte deutsche Mittelfeld den Ausfall abfedern zu können. Doch das könnte sich als Irrtum herausstellen.

Von Thomas Hummel, Mailand

Einen ARD-Brennpunkt wie damals bei Michael Ballack gab es diesmal nicht. Noch gibt es Hoffnung für Sami Khedira, noch wollen sie es bei Deutschen Fußball-Bund nicht wahrhaben, dass dieser Gigant im Mittelfeld der Nationalmannschaft im kommenden Jahr die Weltmeisterschaft in Brasilien verpassen wird. Dabei stehen die Chancen für den in Stuttgart geborenen Profi schlecht, seine zweite WM spielen zu können. Sehr schlecht.

Khedira hat sich am Freitagabend bei einem verunglückten Zweikampf mit dem Italiener Andrea Pirlo das Knie verdreht. Nachts, als die Mannschaft noch an der Bar des Teamhotels Principe di Savoia in der Nähe des Mailänder Doms auf die gute Leistung beim 1:1 gegen Italien im 100. Länderspiel von Bundestrainer Joachim Löw anstieß, humpelte der 25-Jährige mit einem dick einbandagierten Knie herein.

Mit dabei hatte er die Diagnose der Kernspintomografie in einer Mailänder Klinik: Innenbandriss und Riss des vorderen Kreuzbandes im rechten Knie. Schon am Samstag wurde Khedira in Augsburg vom Spezialisten Ulrich Boenisch operiert, mit dabei der DFB-Arzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt sowie die aus Madrid eingeflogenen Ärzte Jesús Olmo und Francisco Morate. Die Prognose bei einem Kreuzbandriss: sechs Monate Pause.

Das bedeutet, dass die Saison bei Real Madrid gelaufen ist. Frühestens zur Vorbereitung der Nationalmannschaft auf die WM könnte Khedira wieder einsteigen. Doch ergibt das Sinn? Einen monatelang verletzten Spieler mit zur WM zu nehmen, wo zusätzlich durch Hitze, Reisestress und enormen öffentlichen Druck ein Abnutzungskampf droht?

Damals, bei der Knöchelverletzung von Michael Ballack, dachte die Nation vor der WM in Südafrika: Wie soll das jetzt gutgehen, ohne den einzigen Kicker von Weltformat? Deutschland wird fürchterlich scheitern ohne seinen Capitano! Jetzt denkt das Fußballland: Nunja, selbst wenn Khedira fehlt - wir haben ja noch Schweinsteiger, Gündogan und sowieso all die Super-Super-Feinfüße in der Offensive. Wird schon gehen.

Das könnte ein Irrtum sein.

Khedira ist seit Jahren das konstante Element in Löws Team. Er brachte stets Aggressivität und Entschlossenheit in das teils verspielte Ensemble, ob nun gegen Kasachstan oder eben Italien. Er war einer derjenigen, auf die sogar die Gurus der DFB-Elf stolz sein konnten, einer der sich nichts gefallen ließ auf dem Feld. Das wurde ihm vielleicht jetzt zum Verhängnis.

Minuten vor seiner Verletzung war Khedira von Domenico Criscito wüst gefoult worden. Sogar Löw eilte die Seitenlinie entlang, um sich über den Tritt zu beschweren, weil auch der Schiedsrichter wieder mal nicht gepfiffen hatte. Wollte sich Khedira dafür revanchieren? Jedenfalls ging er recht ungestüm gegen Andrea Pirlo in den Zweikampf - und verletzte sich selbst.

Khedira war auch in San Siro ein Fixpunkt in Löws Team. Wie bei der Europameisterschaft, als Partner Bastian Schweinsteiger nach langer Verletzung viele Probleme mit ins Turnier schleppte und Khedira den Anführer im Zentrum gab. Er gewann hinten die Zweikämpfe und leitete nach vorne die Angriffe ein. Als Spieler von Real Madrid war er stets außen vor, wenn es um die Konkurrenz zwischen dem Bayern- und dem Dortmund-Block ging. Seine Seriosität und Zielstrebigkeit, dazu sein angenehmer Umgang brachte ihm bei den Kollegen Respekt ein. Entsprechend bedrückt reagierten diese auf die Nachricht.

Mehr als Magenschmerzen

"Das ist ganz bitter. Sami ist eine Konstante in unserem Spiel", sagte Kapitän Philipp Lahm. Dem Bundestrainer soll sogleich der Rotwein nicht mehr geschmeckt haben, er wirkte erschrocken. "Wir waren alle richtig niedergeschlagen, weil ich mich in den letzten Jahren, seit 2004, seit ich dabei bin, nicht daran erinnern kann, dass es jemals so eine schwere Verletzung gab. Und gerade beim Sami, der für uns so eine große Persönlichkeit und so ein wichtiger Spieler ist, hat uns das sehr, sehr getroffen", sagte Löw.

Er sprach davon, dass Khedira immer positiv denke. "Das wird ihm helfen, und daher bin ich auch optimistisch, dass er rechtzeitig bis zum Anpfiff der WM in Brasilien wieder fit wird. Ich habe da noch einen kleinen Funken Hoffnung, dass es reichen könnte." Auch der renommierte Arzt Müller-Wohlfahrt erklärte: "Die Operation ist gut verlaufen. Nun hoffen wir, dass Sami zur WM in Brasilien wieder fit sein wird." Vielleicht auch aus Rücksicht auf Khedira geben sie sich optimistisch - dabei hat Löw zuvor schon die Regeln für die WM definiert.

Am vergangenen Donnerstag in München hatte er erklärt, dass die derzeitigen Verletzungen von Schweinsteiger, Gündogan, Lukas Podolski, Mario Gomez oder Miroslav Klose für ihn kein Problem darstellten, weil sie alle damit rechnen, spätestens in der Vorbereitung zur Rückrunde voll ins Training einzusteigen.

"Ein halbes Jahr oder fünf Monate durchzuziehen vor der WM, das ist für mich die Grenze, dann reicht es allemal", hatte Löw in München gerechnet. Sollten aber Verletzungen, die schwerwiegend sind, später passieren, "bereitet es mir mehr Magenschmerzen". Khediras Blessur dürfte in diesem Sinne für ein kleines Geschwür beim Bundestrainer gut sein. In Erinnerung dürfte ihm auch Schweinsteigers EM sein, der nach einer Verletzung die nötige Wettkampf-Fitness nicht erreichte, sich halb durchs Turnier schleppte, wofür Löw nach der Pleite im Halbfinale harsche Kritik einstecken musste.

Führen die Wege zu Lahm?

Bleibt die Frage nach Alternativen. Da auch Schweinsteiger am Fuß und Gündogan am Rücken mit komplizierten Verletzungen kämpfen und noch auf unbestimmte Zeit auszufallen drohen, spitzt sich die Lage im Zentrum plötzlich zu. Bleiben Sven und Lars Bender als durchaus talentierte, aber insgesamt eher brave Arbeiter. Toni Kroos konnte bislang nicht den Nachweis erbringen, die nötige defensive Wettkampfhärte für einen Platz im defensiven Mittelfeld mitzubringen. Gegen Italien tat es ihm gut, dass mit Khedira und Philipp Lahm zwei Partner mit Gefühl für die Abwehrarbeit neben ihm spielten. Gegen England am Dienstag wird die Konstellation Kroos plus ein Bender wohl erstmals wettkampfgetestet.

Oder führen nun die Wege zu Philipp Lahm? Spielt der 30-jährige Kapitän schon beim FC Bayern den großen Strategen und Gegenpresser, gab er auch gegen Italien den zuverlässigen Passweg-Blockierer, den Helfer in allen Lagen im Zentrum des Platzes. Die deutsche Mannschaft wollte die Mitte dicht machen in Mailand, mit Lahm gelang das glänzend.

Bislang legt sich Bundestrainer Löw auf Lahm als Rechtsverteidiger fest, er wähnt sich weiterhin mit genügend Optionen für das Zentrum. Kommt er aber im Frühling zu dem Schluss, Lahm während der WM dauerhaft im Mittelfeld zu brauchen, muss er auch rechts hinten umplanen. Dort agierte brav, aber von den Durch-die-Mitte-Spielern Italiens kaum geprüft, der Schalker Benedikt Höwedes. Ginge es nur nach den Leistungen in dieser Saison, hätte dort der Dortmunder Kevin Großkreutz spielen müssen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: