Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalmannschaft:Verunsichert vom Schweigen

  • "Wir sind selbst unsere schärfsten Kritiker, und wir sind sauer auf uns selbst über das, was wir auf dem Platz gezeigt haben", sagt Manuel Neuer in Watutinki.
  • Oft versucht Neuer zu versichern, er sei davon "überzeugt", dass die Kollegen die Botschaft vom vorigen Sonntag bei der 0:1-Niederlage gegen Mexiko verstanden haben. Doch es klingt auch Unsicherheit durch, ob sich nun etwas ändert.
  • Besonders befremdet hat ihn offenbar der Ausfall der internen Kommunikation auf dem Platz.

Von Philipp Selldorf, Watutinki

Am Anfang hieß es aus dem Planungsstab im deutschen Mannschaftshotel, dass am Dienstag der Assistenztrainer Thomas Schneider vor die Öffentlichkeit treten werde, um das große Schweigen zu beenden. Nach der 0:1-Niederlage gegen Mexiko hatten die Deutschen sozusagen handstreichartig alle Termine und Aktivitäten storniert und einen Tag der Stille und der inneren Einkehr anberaumt, wozu sich das weltferne Quartier in Watutinki auch bestens eignen sollte: An diesem Ort droht definitiv keine Reizüberflutung.

Im Zuge der konzertierten Besinnung ergaben sich dann neue Direktiven. Anstelle des ehrenwerten Gehilfen Schneider wurde der Kapitän Manuel Neuer zur Pressekonferenz entsandt, und es ist sicher keine abenteuerliche Spekulation, zu behaupten, dass diese Umbesetzung eine Geste an die schockierte Nation sein sollte. Im deutschen Fußballstaat ist Manuel Neuer gegenwärtig der zweite Mann hinter der höchsten Instanz, dem Bundesfußballkanzler Joachim Löw. Dieser hat Neuer nicht aus Spaß zum Vorsitzenden der Mannschaft ernannt, sondern weil der 32 Jahre alte Torwart ein besonnener und verantwortungsbewusster Mensch ist mit großem sozialem Gespür. Eigenschaften, die ihm nun die Aufgabe verschafften, das aufgewühlte Land zu beruhigen.

Neuers Erscheinen im Medienzentrum wurde zur Mittagszeit avisiert, "gegen 12.30 Uhr", aber in Sachen Pünktlichkeit hat sich der DFB eine solche Laissez-faire-Mentalität angeeignet, dass man dahinter beinahe Absicht vermuten muss. Neuerdings ist nicht die Einhaltung des Termins die Regel, sondern die Verspätung. Sollte es die Idee sein, das Klischee vom pedantischen Germanen zerstreuen zu wollen, dann geht die Strategie auf. Schon bei den Veranstaltungen im Trainingscamp in Südtirol staunten ausländische Berichterstatter über die neue deutsche Lockerheit beim Umgang mit Terminen, beim Einstand in Watutinki ließ DFB-Oberhaupt Reinhard Grindel die Weltpresse mehr als zwei Stunden warten.

"Ich denke, dass wir keinen zweiten Wachrüttler brauchen", sagt Manuel Neuer

Diesmal war es lediglich ein knappes Stündchen später als angekündigt. "Erst mal sorry", sagte Manuel Neuer, "wir hatten gerade eine Sitzung, die etwas länger dauerte." Man habe darüber gesprochen, was jetzt respektive im Spiel gegen Schweden am Samstag besser werden müsse, informierte er, und das wäre natürlich eine überzeugende Entschuldigung, wenn er nicht auch darüber berichtet hätte, dass diese Dringlichkeitssitzung bereits seit der Abfahrt aus dem Luschniki-Stadion am Sonntagabend um halb zehn andauert.

Im Bus, im Hotel, "bei fast jedem Essen", mithin bei allen Gelegenheiten sei diskutiert worden, berichtete Neuer. Schonungslos sei es dabei zugegangen. "Wir setzen uns zusammen und sagen uns ehrlich die Meinung. Da nehmen wir kein Blatt vor den Mund", versicherte der Kapitän.

Dass die Urteile über den Auftritt des Weltmeisters draußen in der Welt ebenfalls einigermaßen deutlich ausfielen, das hat man hinter den hohen Mauern des DFB-Wohnheims wohl mitbekommen. Klar: Jetzt hat die große Stunde der Gurus geschlagen. Lothar Matthäus kritisierte Mesut Özil ("seit ein, zwei Jahren spielt er auf einem Niveau, das den Freifahrtschein von Jogi Löw nicht rechtfertigt"); Stefan Effenberg kritisierte Mats Hummels ("hätte schon während dem Spiel auf dem Platz Einfluss nehmen müssen" - und nicht erst nachher); und Mario Basler durfte im Abendprogramm der ARD auch etwas sagen zur Not der Nationalelf, warum auch immer. All diese Kritiker dort draußen sind aber laut Neuer nichts gegen die Kritiker drinnen: "Wir sind selbst unsere schärfsten Kritiker, und wir sind sauer auf uns selbst über das, was wir auf dem Platz gezeigt haben."

Typisch für Neuer ist üblicherweise ein schalkhaftes Lächeln, mit dem er entweder einen Scherz begleitet oder eine kleine Unsicherheit kaschiert. Diesmal lächelte er sehr selten, seine ernste Miene spiegelte den Ernst der Lage des lädierten Weltmeisters. Oft versuchte Neuer zu versichern, er sei davon "überzeugt", dass die Kollegen die Botschaft vom vorigen Sonntag verstanden haben, "ich denke, dass wir keinen zweiten Wachrüttler brauchen", sagte er. Aber es klang bei all diesen Parolen des Wir-haben-verstanden auch seine Ungewissheit durch, ob den Absichtserklärungen seiner Mitspieler die notwendigen Taten folgen werden. Die Erfahrung des Organisationsversagens im Mexiko-Spiel und der Zusammenbruch der defensiven Ordnungssysteme scheint ihn doch ziemlich überrascht und überwältigt zu haben.

Neuer wollte das nicht zu erkennen geben, doch sein Rätseln über die Ursachen der vielen grundlegenden Fehler im Spiel sprach Bände. Besonders befremdet hat ihn offenbar der Ausfall der internen Kommunikation auf dem Platz: Normalerweise, erklärte Neuer, sollten sich die Spieler gegenseitig "von hinten nach vorn und von innen nach außen coachen", doch die Bereitschaft zur Selbstregulierung sei nicht so ausgeprägt gewesen "wie bei den vorigen Turnieren". Wer will, der hört aus dieser Analyse die Sehnsucht nach Integrationsfiguren, wie sie bei der Weltmeisterschaft 2014 Per Mertesacker, Miroslav Klose oder Philipp Lahm darstellten.

Laut Neuer liegt der Schlüssel zum Neuanfang nicht in einem Austausch der Akteure. Ob der Bundestrainer gegen Schweden dieselbe Mannschaft wie gegen Mexiko oder eine ganz andere Elf einsetze, das hält er nicht für vorrangig wichtig: "Es geht eher darum: Habe ich die Bereitschaft und die hundertprozentige Einstellung, dieses Turnier anzugehen?"

Was im Umkehrschluss zu bedeuten hat, dass diese vollständige Hingabe am Sonntag nicht vorhanden war.

Der Gegner am nächsten Samstag, Schweden, wäre normalerweise keiner, vor dem sich die Deutschen fürchten würden. Aber Manuel Neuer, ausgesandt, um das Fußball-Volk zu beruhigen, wagt es nicht, Entwarnung zu geben und eine weltmeisterliche Leistung zu garantieren: "Den Hebel einfach umzulegen, das ist nicht so leicht, wie man es ausspricht."

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Quelle:
SZ vom 20.06.2018/ska
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