Deutsche Nationalmannschaft:Ein bissel gut

Die DFB-Auswahl besiegt Nordirland dank einiger gelungener Phasen. Aber sie zeigt erneut Momente der Instabilität. Das Ergebnis beruhigt zumindest die Debatten.

Von Philipp Selldorf, Belfast

Joshua Kimmich ließ sich nicht aufhalten, furchtlos stürmte er voran, tiefer und tiefer trieb er den Ball in den Strafraum hinein. Doch seine Verfolger kamen ihm immer näher ...

Es war eine wirklich mitreißende Szene, die sich da zum Ende der zweiten Halbzeit vor den Augen der knapp 20 000 Zuschauer im Windsor Park zu Belfast abspielte. Der schmächtige FC-Bayern-Profi Kimmich, gehetzt und umzingelt von drei wild entschlossenen nordirischen Kerlen, allein und ausgeliefert - aber was man ihm in diesem Moment am meisten wünschte, das war nicht die stets pünktlich zur Hilfe eilende Kavallerie, sondern ein Kompass, der ihm die richtige Richtung anzeigte. Denn Kimmich stürmte nicht in Richtung Westen, wo das nordirische Tor stand, sondern nach Osten, wo nun Torwart Manuel Neuer angespannt beobachtete, wie sich sein Kollege kurz vor Feierabend und beim wackligen Spielstand von 1:0 für Deutschland der höchst bedrohlichen Überzahl erwehren würde. Vermutlich hätten viele Fußballer unter dem Eindruck dieser Lebensgefahr den Ball einfach irgendwohin getreten, Hauptsache weg. Aber Kimmich löste das Problem mit Nervenstärke und mit technischem Vermögen.

"Fußballerische Lösungen sind das, was uns besser macht", hat Toni Kroos später gesagt, nachdem Serge Gnabry mit einem Treffer in der Nachspielzeit das gefährlich knappe 1:0 doch noch in ein standesgemäßes 2:0 für Deutschland verwandelt hatte.

Jogi Löw verweist auf seinen langfristigen Auftrag: "Einspielen, Automatismen schärfen ..."

Kroos hat gewiss nicht Kimmichs riskante Exkursion in den eigenen Strafraum gemeint, aber er hat es sehr ernst gemeint mit seiner These. Denn er hat sie in einer Häufigkeit wiederholt, als wollte er sich dem römischen Staatsmann Cato dem Älteren anschließen, der einst bei jeder Gelegenheit die Zerstörung Karthagos forderte. Als Kroos die gelungenen Momente dieses aus deutscher Sicht überraschend langen, weil bis zum Schluss unerwartet aufregenden Fußballabends rekapitulierte, klang es ebenfalls so, als ob er jedes Mal das gleiche sagte. Man habe sich immer dann der nordirischen Eiferer entledigt, "wenn wir uns fußballerisch befreien konnten", insistierte der 29 Jahre alte Mittelfeldspieler aus Madrid. Dies war auch die Aufforderung an die vorwiegend jüngeren DFB-Mitspieler, den eigenen Fähigkeiten zu vertrauen und die Entschlossenheit aufzubringen, sie zu nutzen. Von beidem war es im Ganzen zu wenig gewesen an diesem Montagabend in Belfast.

Die Phasen, in denen die Deutschen ihre spielerische Überlegenheit nutzten, hat es tatsächlich gegeben, es waren allerdings nur Episoden der Partie. Weshalb auch Kimmich ziemlich richtig lag, als er sein Fazit zog: "Wir haben ein bissel was gezeigt von dem, was wir können." Bis es in der zweiten Halbzeit so weit war, dass die Deutschen ihren Gegner mit Spielkunst beeindruckten, mussten sie eine erste Hälfte überstehen, in der die Nordiren nicht aufhörten, vor dem Tor von Manuel Neuer Schreckmomente zu kreieren. "Wir konnten zufrieden sein, mit 0:0 in die Pause zu gehen", sagte Kimmich.

Nordirland - Deutschland

Erst besorgte Serge Gnabry das beruhigende 2:0 für die phasenweise recht instabile Mannschaft, dann schulterte ihn Kai Havertz.

(Foto: Christian Charisius/dpa)

Der Bundestrainer hieß anschließend ausdrücklich auch das Schlussresultat willkommen: "Das sind drei Punkte für die Quali", bilanzierte Joachim Löw befriedigt und bezeugte damit eine für seine Verhältnisse erstaunliche Genügsamkeit. Gehobene fußballerische Ansprüche hatte seine Elf zwar allenfalls partiell erfüllt, doch Löw hatte diesmal gute Gründe, Fußball nicht als Kunstform, sondern ganz realpolitisch als Ergebnissport zu interpretieren. Denn dieser Sieg beruhigt erstens das Gerede, das nach dem 2:4 gegen Holland entstanden war, und er garantiert aufgrund des günstigen Restprogramms zu guten Teilen die EM-Qualifikation, was, wie der Bundestrainer hofft, seinen Erziehungsauftrag erleichtert. "Zurück in die Weltspitze" heißt ja die Mission, die der Arbeitgeber DFB formuliert hat. Löw verweigert ausdrücklich die Zusage, dass dies bereits bis zur EM im nächsten Jahr gelingen wird. "Das Potenzial ist vorhanden", betonte er, aber die Niederländer zum Beispiel hätten drei Jahre gebraucht, um jene schlagkräftige Mannschaft zu bilden, die sie jetzt haben.

Auch Löw hatte in der Halbzeit in Belfast für die spielerischen Lösungen plädiert. Der Coach sei ganz ruhig gewesen und habe bloß "ein, zwei Sätze" gesagt, berichtete der Dortmunder Julian Brandt. Diese Sätze, die im Stil einer höflichen Ermahnung an die Offensivspieler Marco Reus, Timo Werner, Serge Gnabry und Julian Brandt gerichtet waren, hat Löw später selbst öffentlich wiederholt: "Bitte in den Zwischenräumen bleiben, dort öffnen sich Lücken!"

Zumindest eine Viertelstunde lang blieb diese Anordnung nach der Pause den Spielern in Erinnerung. Prompt fiel in dieser stärksten deutschen Phase das künstlerisch wertvolle 1:0 durch den Aushilfsverteidiger Marcel Halstenberg. Und auf die Führung folgten Szenen, die zur Signatur des Fußballs dieser neuen Generation von Nationalspielern taugten: Blitzkombinationen durchs Mittelfeld, Doppelpässe, rasend schnelle Konterattacken. Dabei häufig im Bild: Brandt und Gnabry. Weniger häufig: Reus und Werner. Nichts war komplett an diesem Abend, nicht mal in den besten Passagen. "Wir haben gezeigt, was wir draufhaben", fand Kimmich, er fand aber auch den Haken: "Wir zeigen es immer wieder - leider viel zu selten und leider nicht über 90 Minuten."

Die Tabelle in der Gruppe C nach fünf Spielen

1. Deutschland 17:6 12

2. Nordirland 7:4 12

3. Niederlande 14:5 9

4. Weißrussland 3:10 3

5. Estland 2:18 0

Jogi Löw war trotzdem einigermaßen einverstanden, für ihn stellte dieser Auftritt gegen einen resoluten Gegner und unter Verzicht auf ein halbes Dutzend wichtiger Kadermitglieder (von Sané bis Gündogan und Goretzka) einen kleinen Fortschritt dar - und mehr als kleine Fortschritte erwartet Löw vorerst gar nicht.

Der Coach tüftelt noch an allen Elementen dieser neuen deutschen Mannschaft, von der noch kein Beteiligter weiß, wie gut sie unter höchsten Ernstfallbedingungen zusammenwirken kann. Auch Löw wiederholte sich in Belfast wie Cato der Ältere: "Einspielen, eingespielt sein, Automatismen schärfen", darauf komme es an.

Die nächste Versuchsanordnung wird er im Oktober beim Test gegen Argentinien erproben. Die Lehre des Abends also, Toni Kroos? "Dass wir gut sind - aber noch einige Spiele brauchen, um gut genug zu sein."

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