Deutsche Nationalmannschaft:Die Vorzüge des Toni-Kroos-Fußballs

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Pässe in allen Farben und Geschmacksrichtungen: Die DFB-Elf ist in ihren besten Momenten die modernste Fußballmannschaft der Welt - weil sie auf zwei Achsen zählen kann.

Von Christof Kneer, Évian

Einmal, wirklich nur ein einziges Mal, sah dieses Achtelfinale in Lille aus wie das Spiel, das alle fürchteten. Manuel Neuer kam aus seinem Tor gestochen und schlug den Ball gerade noch weg, und kurz darauf kam ein deutscher Verteidiger schuldbewusst auf ihn zugelaufen, um ihm den angemessen Dank abzustatten. Vor zwei Jahren, bei der WM in Brasilien, ging das ja ständig so im Achtelfinale, in der Erinnerung rennen überall Algerier herum und nirgendwo sieht man einen Deutschen, außer eben Neuer, der allein allen Algeriern entgegenhechtet.

Zwei Jahre später, bei der EM in Frankreich, blieb es nun aber bei diesem einen Soloritt, nur einmal galoppierte Neuer hinaus in die freie Wildbahn, um den kurzen Rückpass von Jonas Hector früher zu erreichen als der slowakische Angreifer Michal Duris. Es war einer der raren Momente, in denen ein deutscher Nationalspieler in diesem Spiel so etwas wie Schadensbegrenzung betreiben musste.

"Einen ungefährdeten Sieg" bilanzierte Bundestrainer Joachim Löw nach dem 3:0 gegen die Slowakei, und abgesehen von der Grammatik klang er ein bisschen wie Pep Guardiola. "Wir haben den Ball gut laufen lassen", meinte Löw (Guardiola hätte "gut, gut" gesagt), "und wir hatten immer die Kontrolle über das Spiel." Kontrolle: Das ist das Wort, das Löw und Guardiola mindestens so lieb haben wie einen ungefährdeten Sieg.

Pässe in allen Geschmacksrichtungen

Die Macht der Kontrolle war es, die das Spiel der Deutschen an diesem Abend so Achtung gebietend wirken ließ. Ein paar Stunden vor den Deutschen hatten die Franzosen gewonnen, aber es war ein völlig anderer Sieg gewesen. Der Sieg der Gastgeber hatte eine völlig andere Art von Charisma, er war wild, wütend und enthusiastisch, aber kontrolliert war er keine Sekunde. Die Franzosen spielten Paul-Pogba-Fußball, die Deutschen spielen Toni-Kroos-Fußball: Das ist der Unterschied, und wer die Wahl hat, würde sich zumindest nach den Eindrücken des Sonntags für den Toni-Kroos-Fußball entscheiden.

Noch steht der einleuchtende deutsche Sieg streng unter dem Slowakei-Vorbehalt, noch liegen keine belastbaren Beweise vor, ob sich vier Spiele mit null Gegentoren schon auf das Duell gegen Italien hochrechnen lassen. Aber die Konkurrenten registrieren mit zunehmendem Respekt, dass diese Deutschen offenkundig auf einem massiven Fundament Fußball spielen. "Ich glaube", sagte Löw nach dem 2:0-Erfolg der Italiener am Montagabend, "dass die beiden bislang besten Mannschaften des Turniers jetzt gegeneinander spielen." Einstweilen wirkt es, als sei es Löw gelungen, aus vier Spielern zwei Dreierketten zu bilden; die eine Dreierkette (Manuel Neuer/Jérôme Boateng/Mats Hummels) verteidigt mit gnadenloser Seriosität die Null; und die andere Dreierkette (Jérôme Boateng/Mats Hummels/Toni Kroos) fängt ganz früh damit an, die Null des Gegners anzugreifen.

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Wenn es stimmt, dass im modernen Fußball das Aufbauspiel so weit hinten beginnt wie nie zuvor in der Geschichte des Fußballs, dann ist diese deutsche Nationalelf in ihren besten Momenten die modernste Mannschaft der Welt.

Schweinsteiger muss nicht mitspielen, er kann

Schon ganz hinten spielt Joachim Löws Mannschaft Pässe in allen Farben, Formen und Geschmacksrichtungen. Im Angebot hat sie Jérôme Boatengs präzise, weite Schläge auf die Flügel, dazu Mats Hummels' scharfe, flache Pässe durchs Zentrum sowie Toni Kroos' beängstigend komplette Sammlung an Zuspielen, Weiterleitungen und Verlagerungen aller Art. Gemeinsam ergibt das eine Spielanlage, die in alle Richtungen wirkt: Sie stützt die Defensive, weil der Gegner nicht kontern kann, wenn dieser Kroos sich permanent weigert, den Ball zu verlieren. Und sie stärkt die Offensive, weil der Ball im Idealfall gleich ein, zwei gegnerischen Linien überwindet und direkt bei Özil, Müller oder Draxler landet.

Die deutsche Nationalmannschaft hat einen Stabilitätspakt mit sich selbst geschlossen, und dieser Pakt ist es, der den Weltmeister in diesem Turnier allmählich bedrohlich wirken lässt. Wer sich auf so einen autoritären Machtblock Neuer/Boateng/Hummels/Kroos stützen kann, der kann es sich erlauben, sich in aller Ruhe ins Turnier hineinzuspielen; der kann an den Rändern herumtesten, ob er vorne links nun Draxler oder Götze und hinten rechts nun Höwedes oder Kimmich einsetzen will; der kann einen Spielstil mit echter Neun, falscher Neun oder grüner Neun in Aufrag geben; und der kann es sich sogar leisten abzuwarten, ob Bastian Schweinsteiger vielleicht doch noch zu Bastian Schweinsteiger wird.

Nein, "die eine Mannschaft" werde es auch im weiteren Turnierverlauf nicht geben, hat Löw noch in Lille gesagt, und das war weder kokett noch demonstrativ geheimnistuerisch, sondern einfach nur die Wahrheit. Löw braucht im Moment keine Mannschaft, die aus elf Stammspielern mit elf Stammplätzen besteht. Ihm genügt das Wissen, dass der Boden bereitet ist, auf dem alles blühen kann - wie in der 43. Minute dieses Spiels gegen die Slowakei. Erst hielt Manuel Neuer hinten einen Ball, den man vor allem dann hält, wenn man Manuel Neuer ist; und beim nächsten Angriff hatte Toni Kroos in der Tiefe des Raumes unauffällig, aber effektiv seine Füße im Spiel, bevor Jonas Hector und Julian Draxler in Richtung des 2:0 aufbrachen, das dann Mario Gomez erzielte.

Man musste an diesem Sonntagabend freilich nicht immer so genau hinschauen wie beim 2:0, nicht immer brauchte man die zweite Zeitlupe, um die Wirkung der vier Dreiecksspieler zu begreifen. Oft war sie mit bloßem Auge zu erkennen. Boatengs von keinerlei Wadenverhärtung zu verhindernden Volleyschuss zum 1:0 konnte man außer sehen sogar hören ( rrrrums; Anm. d. Red.); und vor Draxlers 3:0 hatte Kroos einen Eckball in die Umlaufbahn geschickt, der zielsicher auf Hummels' Kopf landete.

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Jérôme Boateng ist später noch gefragt worden, ob man auch ein ganzes Turnier zu null spielen könne. "Gehen tut alles", antwortete er trocken, bevor er anfing, das Defensivverhalten der ganzen Mannschaft zu loben. "Das fängt vorne im Sturm an", meinte Boateng, Mario Gomez etwa habe "sehr gut gegen den Ball gearbeitet, dann ist es hinten für uns einfacher". Sätze, die man halt so sagt als professioneller Sportler, aber in diesem Fall waren die Sätze für Boateng wie ein kleiner Sieg. Denn genau das hatte er ja angemahnt nach dem ersten Gruppenspiel gegen die Ukraine, da hatte er die Offensivspieler noch zu mehr Mitarbeit aufgefordert, und jetzt konnte er also zufrieden gute Zensuren verteilen.

Ohne Gegentor in den ersten vier Turnierspielen

"Führungsspieler" nennt man so etwas wohl in diesem Fußballdeutsch, das manchmal auch so klingt, als hätte es eine Wadenverhärtung. Boateng hat bis zum Viertelfinale nun fast eine Woche Zeit, um seine Wade wieder weich werden zu lassen, und bis dahin sollten sich die Führungsspieler dringend mal überlegen, ob das wirklich nötig war, die ersten vier Turnierspiele kein Gegentor zu kassieren. Nur einmal in der Geschichte ist das einer DFB-Elf bisher gelungen. Und bei diesem einen Mal, bei der WM 1978, ist Deutschland trotzdem ausgeschieden, und zwar gegen ein Nachbarland, das narrisch wurde.

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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