Deutsche Nationalelf vor der EM:Warum sich alles nur noch um die Bayern dreht

Wo spielt Lahm? Wie fit ist Schweinsteiger? Und warum hat Gomez schlechte Laune? Die Debatten im Nationalteam kreisen längst wieder um die Profis aus München. Jetzt, da es ernst wird, ist die Regierungszeit der fröhlichen Dortmunder vorbei - Bundestrainer Joachim Löw versucht mit salomonischem Geschick eine Moderation der schwierigsten Baustellen.

Boris Herrmann

Der Angreifer Mario Gomez hat versucht, sich unauffällig aus dem Leipziger Stadion zu stehlen. Das war schon ziemlich auffällig. Sein Gesichtsausdruck war steinern, und seine Hände steckten gut verstaut in seinen Hosentaschen, als er grußlos auf den Mannschaftsbus zusteuerte. Gomez, der Torschütze beim 2:0 im letzten EM-Test gegen Israel, hatte sehr schlechte Laune.

Trainingslager Nationalmannschaft

Hütchenspieler im Training: Bundestrainer Löw baut wieder auf den Bayern-Block.

(Foto: dpa)

Was die Ursachenforschung betrifft, ist dann in Expertenkreisen natürlich wieder viel spekuliert worden. Das Wort "Chelsea" spielte dabei aber nicht einmal mehr eine Randrolle. Stattdessen machten die Fachbegriffe "Klose" und "Dzeko" die Runde. Den einen Konkurrenten (Miroslav Klose) wird Gomez im Nationalteam partout nicht los. Und den anderen, Edin Dzeko, umrankt das Gerücht, er wolle ihm demnächst beim FC Bayern den Stammplatz rauben.

Gomez kann auf ein Jahr mit einer beeindruckenden Torquote verweisen. Wenn nicht alles täuscht, ist er ordentlich genervt, dass er trotzdem weiterhin als der umstrittene Stolper-Mario wahrgenommen wird. Er beansprucht für sich ein Stürmer-Monopol, das ihm derzeit offenbar niemand geben kann. Oder will.

Bundestrainer Joachim Löw, ein erklärter Fan des spielstärkeren Stürmers Klose, unternahm am Donnerstagabend den Versuch, auf diese Causa salomonisch einzuwirken. "Es ist gut für die Mannschaft, dass sie weiß, dass der Miro und der Mario immer Tore machen können. Eines kann ich jetzt schon sagen: Wir werden unbedingt beide benötigen, wenn wir etwas erreichen wollen", beschwichtigte Löw. Gemessen an den eigentlichen Baustellen seines EM-Kaders dürfte es sich hier tatsächlich um eine Nebensächlichkeit handeln.

Um ein persönliches Problem von Gomez. Aber gerade deshalb war es bezeichnend, dass in Leipzig so viel darüber geredet wurde. Der Block des FC Bayern hat bei dieser Gelegenheit nicht nur die Hoheit auf dem Rasen zurückerobert. Er hat auch ganz nonchalant wieder die Stimmungslage diktiert. Jetzt, da es ernst wird, ist die Regierungszeit der fröhlichen Dortmunder vorbei. Alle wichtigen und halbwichtigen Debatten auf dem Weg nach Osteuropa betreffen bayerische Belange.

Die zentrale Denksportaufgabe ist und bleibt: Wo spielt Philipp Lahm? Präziser formuliert: Wo spielt Philipp Lahm nicht? In der kommenden Woche, die Löw als den entscheidenden Teil der Vorbereitung bezeichnete, soll endlich eine Entscheidung in dieser Grundsatzfrage fallen, von der wiederum die gesamte Statik des deutschen Spiels abhängen dürfte. Das Generalpröbchen gegen Israel lieferte in dieser Hinsicht leider wenig neue Erkenntnisse.

Lahm gab diesmal den Linksverteidiger. Auf rechts hinterließ sein Münchner Mannschaftskollege Jerome Boateng einen durchaus beschwingten Eindruck. Da die Gäste aus Israel aber allenfalls "defensiv aufsässig" waren, wie Löw es formulierte, ließ sich daraus nichts für den Ernstfall ableiten. Die DFB-Auswahl hätte hinten auch mit einer Dreierkette spielen können - es wäre vermutlich gar nicht aufgefallen.

Löws Plus-Minus-Liste

Aus Mangel an Alternativen, die nur Schmelzer, Höwedes oder notfalls Bender heißen könnten, scheint ein Verteidigungsverbund mit dem strebsamen Lahm (links) und dem unberechenbaren Boateng (rechts) derzeit die wahrscheinlichste Variante zu sein. Es gäbe aber auch einen Grund, es anders zu machen. Er lautet: Cristiano Ronaldo. Und der kommt zum EM-Auftakt gegen Portugal auf die rechte deutsche Abwehrseite zu.

Was auch immer Löw von dem gelernten Innenverteidiger Boateng halten mag - ihm die portugiesische Tormaschine anzuvertrauen, wird er sich nicht nur zweimal überlegen müssen. Zumal Lahm im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid bewiesen hat, dass er allemal in der Lage ist, Ronaldo die Spiellaune zu verderben und obendrein noch Offensivaktionen zu setzen (siehe Vorlage zum 2:1 im Hinspiel). Lahm war obendrein der spektakulärste Akteur im Trauerfinale von München - als Rechtsverteidiger. Auch das dürfte der Bundestrainer auf seiner Plus-Minus-Liste notiert haben.

Ein naheliegender Gedanke wäre, anhand von Einzelfallanalysen zu entscheiden. Löw aber hat im Einklang mit dem Betroffenen bereits mehrfach ausgeschlossen, dass es bei der EM einen hüpfenden Lahm zu sehen geben wird. Das widerspräche nicht zuletzt Löws Selbstverständnis von einer klaren Spielphilosophie. Andererseits belegt die jüngere DFB-Geschichte, dass es auch ein Lahm-Springertum geben könnte, welches nicht zwingend "Lahm-Springertum" heißen muss.

Als sich bei der EM 2008 der Linksverteidiger Marcell Jansen als Sicherheitsrisiko erwies, wechselte Lahm sogar in der Halbzeit des Kroatien-Spiels die Seiten. Bei der WM 2010 hätte er fast als linke Notlösung für den überforderten Holger Badstuber einspringen müssen, was lediglich mit der Notnotlösung Boateng verhindert werden konnte.

Keiner geht gerne mit einem Stapel Notfallplänen in ein großes Turnier, am allerwenigsten Löw. Es klang ungewohnt zweiflerisch, als er wenige Tage vor der Abreise nach Polen den Stand der EM-Vorbereitungen bilanzierte: "Man ist nicht völlig zufrieden, man ist nicht in Sorge. Man ist im Gleichgewicht."

Da wäre Bastian Schweinsteiger bestimmt auch gerne. Um ihn, beziehungsweise um seine versehrte Wade, dreht sich ja die dritte Münchner Nationalelfdebatte dieser Tage. Sie hat durchaus noch Potenzial für mehr. Den Abschlusstest hat Schweinsteiger also verpasst. Und mit Blick auf den Ernstfall verkündete der Bundestrainer: "Alle, die auflaufen wollen, müssen fit und ohne Schmerzen sein."

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