Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalelf:Alltag in Astana

Bevor sie zur EM darf, muss die Nationalelf nach Kasachstan. Joachim Löw muss dem Publikum und seinem Team klar machen, dass die WM der Vergangenheit angehört.

Philipp Selldorf

Kasachstans Hauptstadt Astana, so lässt sich auf die Schnelle resümieren, liegt mitten in der weiten Steppenlandschaft Mittelasiens, wird durch sowjetische Gebrauchsarchitektur geprägt und ist nach Ulan Bator in der Mongolei die zweitkälteste Hauptstadt der Welt. Wenn im Oktober der Bundestrainer und seine Nationalelf zum Qualifikationsspiel für die EM 2012 nach Astana reisen, brauchen sie aber keine Hermelinmäntel, die Temperaturen sind noch erträglich.

Und bevor all die wissbegierigen Nationalspieler ihrem Chef auf die Nerven gehen, gibt es hier die Antwort auf die nächstliegende Frage: Ja, es stimmt, dass 95 Prozent des kasachischen Staatsgebiets zu Asien gehören, doch erstens ragt ein Zipfel nach Europa, und zweitens durfte sich das Land als Nachfolgestaat des Sowjetreichs den zuständigen Kontinentalverband aussuchen. 2002 wählte man die Uefa, unter den Kasachen herrschte deshalb - laut Uefa - "unbeschreiblicher Jubel".

In Deutschland wird sich der Jubel in Grenzen halten, die Entfernung zwischen Berlin und Astana beträgt fast 4000 Kilometer. Man hört sie schon maulen, die Bundesligamanager: 4000 Kilometer! In der Hochsaison! Für ein Spiel gegen Kasachstan, Nr. 126 der Weltrangliste! Gemault wird immer, das weiß Joachim Löw. Noch war der Freudenschrei des Volkes über seine Vertragsverlängerung nicht verhallt, da schimpften schon Trainerkollegen und Vereinsbosse auf das Länderspiel in Dänemark, das "an Überflüssigkeit nicht zu überbieten" sei, wie Karl-Heinz Rummenigge im Namen der Gemeinde feststellte. Spätestens da wusste Löw: Der Alltag hat mich wieder.

Der Alltag führt Löw und sein Team zu Punktspielen nach Wien, Istanbul, Baku und Brüssel - und Astana. Wie üblich ist Deutschland der Favorit auf den Gruppensieg, und wenn der geschafft ist, erwartet das Land den EM-Titel, viele Tore, zauberhafte Spiele, die definitive Revanche an Spanien inbegriffen. Dass Löw während der WM darüber nachgedacht hat, den Dienst beim DFB aufzugeben, ist also kein Wunder.

Es wird daher jetzt seine wichtigste Aufgabe sein, dem Publikum und seinem Team klar zu machen, dass die WM der Vergangenheit angehört, dass die Mühsal von vorn beginnt, und dass die Strecke bis zum EM-Endspiel in Warschau länger und lastenreicher ist als der Weg nach Astana in der Steppe Mittelasiens.

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Quelle:
SZ vom 11.08.2010
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