DFB-Team:Wenn in der Mitte ein Loch klafft

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In drei Länderspielen kassiert die DFB-Elf - hier nach dem Treffer zum zwischenzeitlichen 0:2 gegen die Schweiz - sieben Gegentore. (Foto: Herbert Bucco/imago images)

Drei Länderspiele, sieben Gegentore: Die Nationalelf plagen Abwehrsorgen, doch Bundestrainer Löw will sich weder auf ein System noch auf einen Abwehrchef festlegen. So bleibt die Lösung des Problems offen.

Von Sebastian Fischer

Antonio Rüdiger hat mal erzählt, was für ihn die Bedingungen waren, um auf höchstem Niveau zu verteidigen. Es war der Herbst 2018, Rüdiger spielte nach zwei Jahren bei AS Rom seine zweite Saison beim FC Chelsea, wo sein Trainer nach Antonio Conte nun Maurizio Sarri hieß. "Anderthalb Stunden nur verschieben, hin und her, ohne Ball, damit die Automatismen stimmen und man ein Gefühl für die Abstände bekommt. Ich mag italienisches Training", sagte er. Zur Überraschung seiner Kritiker, die in ihm noch den oft zu ungestümen jungen Verteidiger vom VfB Stuttgart sahen, war er zum konstanten Stammspieler bei einer Spitzenmannschaft in der Premier League geworden.

Ob Joachim Löw in seinem Training den italienischen Ansatz wählt, ist nicht bekannt, Einheiten der deutschen Nationalmannschaft sind ja in Pandemiezeiten mit guter Begründung besonders geheim. Doch wenn man die jüngsten Auftritte als Maßstab nimmt, drängt sich der Verdacht auf, dass für das Einüben von Automatismen in der Verteidigung bislang die Zeit gefehlt hat im engen Terminplan des Herbstes 2020. Die Laufwege von Rüdiger, 27, der beim FC Chelsea unter dem englischen Trainer Frank Lampard derzeit kein Stammspieler mehr ist, waren beim 3:3 gegen die Schweiz ein Beleg dafür.

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Sieben Gegentore und zwei verschiedene Systeme in drei verschiedenen Besetzungen, das ist die Defensivbilanz aus drei Länderspielen in sieben Tagen. Es war nicht nur der ARD-Experte Bastian Schweinsteiger, der daraus ein Abwehrproblem ableitete. Löw hatte gegen die Schweiz nach zwei Versuchen mit einer Kette aus drei Innenverteidigern wieder mal eine Viererkette mit zwei Innenverteidigern aufgestellt. Ein Mittelfeldspieler mehr, das war die Basis für eine sehr ansehnliche, erhofft dynamische Offensivleistung. Doch mindestens vor zwei Gegentoren, jenen zum 0:1 und 2:3, herrschte in der Abwehr Konfusion. Rüdiger, der linke Innenverteidiger, verließ mehrmals seine Position. Vor dem dritten Gegentor war er plötzlich weiter links als der Linksverteidiger Robin Gosens. In der Zentrale blieb ein Loch.

In Zukunft müsse besser, klüger und "erwachsener" verteidigt werden, das sagte danach der offensiv überragende Kai Havertz, 21. Löw erklärte die Fehler damit, dass "wir bewusst ein hohes Risiko eingegangen sind". Er gab aber auch zu: "Verteidigen können wir als Mannschaft noch besser, das müssen wir in Zukunft optimieren." Doch der Bundestrainer weigert sich beharrlich, das zu tun, was Schweinsteiger am Dienstag erneut forderte: Es sei entscheidend, sagte er, "dass sich eine Abwehrreihe findet, von der man überzeugt ist. Wo man weiß: Wer ist der Wortführer?" Es bleibe ja, auch daran erinnerte Schweinsteiger, bis zur EM im kommenden Jahr gar nicht mehr so viel Zeit.

Löw möchte gerne "im Verbund gut verteidigen" und flexibel zwischen beiden Systemen wechseln können, das betont er stets. Doch dieser Wunsch wird dadurch kompliziert, dass bislang kein System ohne Probleme funktioniert. Stellt er die fürs Offensivspiel günstigere Viererkette auf, ist da etwa die nicht optimal besetzte Linksverteidigerposition: Gegen die Schweiz begann Gosens, der sich seinen Platz im Kader mit herausragenden Leistungen bei Atalanta Bergamo verdient hat. Dort spielt er in der Rolle des Flügelspielers vor drei Innenverteidigern aber so offensiv, dass er eher ein Mittelfeldspieler ist. Links in einer Viererkette spielte er im Verein zuletzt 2017 bei Heracles Almelo in den Niederlanden. Und Löws Rechtsverteidiger Lukas Klostermann spielt bei RB Leipzig derzeit eher innen in einer Dreierkette, genau wie Marcel Halstenberg, der Gosens nach einer Stunde auf der linken Seite ablöste.

"Wir haben ja keine so ganz erfahrenen Spieler in unserer Abwehr", sagte Löw, wohl ohne die Ironie zu bemerken

In der Innenverteidigung sieht es ähnlich aus, durch Formschwächen der Protagonisten vielleicht sogar noch etwas problematischer. Stellt Löw eine Dreierkette auf, sind die Verteidiger im Spielaufbau besonders gefordert. Niemand ist dabei bislang aber mit einer Begabung aufgefallen, wie sie Mats Hummels oder Jérôme Boateng haben, die der Bundestrainer in den Nationalspielerruhestand geschickt hat. "Wir haben ja keine so ganz erfahrenen Spieler in unserer Abwehr", sagte Löw. Die Ironie schien er dabei nicht zu bemerken.

Niklas Süle, 25, als zentraler Verteidiger vorgesehen, ist nach seinem Kreuzbandriss noch nicht wieder in Bestform, deshalb schonte Löw ihn am Dienstagabend. Matthias Ginter, 26, hat sich zwar zu einem hervorragenden Bundesliga-Verteidiger entwickelt, doch sollte Löw für ihn die Rolle des Wortführers im Nationalteam vorgesehen haben, der die Kommandos gibt, dann muss sich Ginter daran erst noch gewöhnen. Bleibt also Rüdiger.

Gegen die Ukraine spielte er auffällig, bereitete ein Tor mit einer wuchtigen Einzelaktion vor, zeigte seine physischen Stärken. Doch gegen die Schweiz hatte man den Eindruck, dass er ein Spieler sein soll, der er gerade nicht sein kann. Er sah aus wie ein Verteidiger, der dringend Spielpraxis und Anleitungen braucht, die er in London derzeit nicht bekommt. Italienisches Training, Automatismen, das Gefühl für Abstände, das wäre es vielleicht, was Rüdiger und damit dem deutschen Fußball helfen könnte. Ausleihen zu AC Mailand oder AS Rom sind dem Vernehmen nach kurz vor Transferschluss gescheitert.

© SZ vom 15.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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