Deutsche Gruppe:Schützenhilfe aus Südamerika

Am Tag nach dem Remis gegen Russland tun die Brasilianer den Deutschen einen Gefallen. Ihr Sieg bringt die Südamerikaner fast schon in die WM-Hauptrunde - erfreut aber auch das DHB-Team.

Von Klaus Hoeltzenbein, Berlin

Handball-Spiele haben eine Eigenschaft, die jeden Dramaturgen glücklich werden lässt. Treffen zwei gleichwertige Mannschaften aufeinander, spitzt sich meist alles in den letzten Sekunden zu. Warum das so ist, ist ein Fall für Team-Psychologen, jedenfalls war es am Montagabend wieder so. Und weil jeder Trainer weiß, dass es so ist, und immer so sein wird, braucht er Spieler für Spezialaufträge. Spieler, die wissen, wo die Brechstange anzusetzen ist, und so einer ist Fabian Böhm. Bundestrainer Christian Prokop, sonst eher ein Freund der leisen Töne, nennt ihn seinen "absoluten Krieger".

Böhm, der Krieger, bekam in jener Last-Minute-Situation, auf die sich auch das Duell gegen Russland zuspitzte, seinen Befehl: "Böhmi! Geh' voll!". Was decodiert bedeutete: "Es wurde für mich Platz gemacht, und es hieß, ich soll die Entscheidung treffen", so Böhm. Werfen oder passen? "Die Aufgabe hieß, geh' mal voll drauf und guck, was passiert ... Und in dieser Situation geht dann das Türchen auf." Was halt erhofft wird, wenn sich hundert Kilo, verteilt auf fast zwei Meter, mit Brachialgewalt dagegen werfen. Mission completed! 22:21. Auftrag auch erfüllt?

IHF Handball World Championship - Germany & Denmark 2019 - Group A - Russia v Brazil

Fabio Chiuffa und Raul Nantes freuen sich über den Sieg Brasiliens über Russland.

(Foto: Annegret Hilse/Reuters)

Der Spieler Böhm, der bereits 29 ist, aber gerade einmal zwanzig Länderspiele absolviert hat, hätte an diesem Abend ein paar Stufen in der Popularitätsskala des deutschen Sports auf einmal nehmen können. Einen WM-Siegtorschützen vergisst man nicht so schnell. Blöd nur, dass sich den Russen ebenfalls noch ein Spalt im Türchen öffnete, durch den Kosorotow, ein schmalbrüstiger Schlaks, schlüpfen konnte. 22:22, neun Sekunden vor Ende. Plötzlich herrschte Stille unter den 13 500 in der Halle am Berliner Ostbahnhof.

Dieses Remis gegen Russland war im deutschen Turnierfahrplan nicht vorgesehen. Die Russen waren zwar mal Avantgarde in diesem Sport, Olympiasieger zuletzt 2000 in Sydney, aber die aktuelle Mannschaft befindet sich in der Modernisierung. Mit eventuellen Punktverlusten hatten die Deutschen in der Vorrunde allenfalls im Duell mit Frankreich, dem Titelverteidiger, kalkuliert. Jeder weitere Verlust aber kann schwerster Ballast sein - denn die Bilanz gegen jene zwei Mannschaften, die sich ebenfalls für die ab Samstag in Köln zu spielende Hauptrunde qualifizieren, wird nicht gestrichen. Es geht nicht noch mal von vorne los.

Handball-WM 2019/ Russland - Deutschland 22:22

Der Mann für Spezialaufträge aus dem Rückraum: Fabian Böhm erzielte gegen Russland aus drei Versuchen zwei Treffer.

(Foto: Elmar Kremser/SvenSimon)

Und so lag der deutsche Fokus am gestrigen Dienstag, am Tag nach dem fatalen Remis, bereits ab 15.30 Uhr auf der Partie von Russland gegen Brasilien. Es ging um die höhere Turnier-Mathematik: Würden die Russen gewinnen, wären diese vermutlich in der Hauptrunde. Würden aber die Brasilianer sich durchsetzen, wären sie es wohl, denn das letzte Vorrundenspiel gegen Korea gilt für die Südamerikaner als Formalie. Angenehmer Nebeneffekt fürs DHB-Team: Russland wäre raus, der eigene Verlustpunkt für die Hauptrunde getilgt.

Und so kam es, die Brasilianer taten ihnen den Gefallen. Deren 25:23 gibt auch der DHB-Auswahl wieder neue Optionen für diese Weltmeisterschaft, unabhängig vom Remis gegen die Franzosen.

Rückblende zum Vorabend: Lange schien es, als hätten die Deutschen die Dramaturgie des Russland-Spiels unter Kontrolle. Sogar der Hallensprecher vergaß etwaige Neutralitätspflichten und bat darum, die Herren in Weiß mögen jetzt aber bitte mal "den Sack zumachen". Doch immer wieder riss der Faden, und jeder, der den Grund suchte, fand einen anderen. Ausgerechnet jene beiden, die aus dem Rückraum rastlos ihre Energie ins Spiel pumpten, der Kieler Steffen Weinhold und der Berliner Paul Drux, vergaben klare Chancen; Drux leitete zudem per Fehlpass den Gegenstoß zum 21:21 ein.

IHF Handball World Championship - Germany & Denmark 2019 - Group A - Russia v Germany

Die Blicke gehen nach vorn: Bundestrainer Christian Prokop (rechts) peilt mit seiner Mannschaft große Ziele an in den nächsten Jahren.

(Foto: Annegret Hilse/Reuters)

Fehler gehören zu diesem Sport, doch sollte der Gegner dann nicht einen glatzköpfigen Leichtfuß wie Timur Dibirow, 35, auf Linksaußen haben, der wie eine Heuschrecke abhebt. Nur fliegt er dazu Winkel und dreht Pirouetten, dass jede Heuschrecke neidisch werden muss. Dibirow krönte die bis dahin erstaunlichste Individual-Vorführung des Turniers mit acht Treffern. Binnen nicht einmal 24 Stunden aber drehte sich das Blatt: Der Hüpfer erzielte gegen Brasilien zwar weitere sechs Tore, sah aber nach einer strittigen roten Karte wegen Tätlichkeit (gegen einen arg theatralischen Torhüter) am Ende von außen zu, wie die russischen WM-Träume zerrannen.

Derweil suchten die Deutschen immer noch nach Gründen, warum ihnen nach Siegen gegen Korea (30:19) und Brasilien (34:21) ihr drittes WM-Spiel in der finalen Phase entglitten war. Warum sich eines jener verflixten Duelle entwickeln konnte, in denen so vieles schief geht. So verflixt, dass sich eine Mannschaft mit hoher Ambition in jedem Turnier nur ein, maximal zwei solcher Spiele leisten kann. Bei der WM 2007 verloren die Deutschen in Berlin ihr drittes Vorrundenspiel gegen Polen - ebendiese Polen trafen sie im Finale wieder und gewannen den Titel.

Oft ist es im Handball nur ein einziger, ein symbolischer Wurf, der den Dingen eine Wendung geben kann. Montagabend hätte es auch jener Wurf von Fabian Böhm aus der Mitte der zweiten Halbzeit sein können, der exemplarisch dafür stand, wie knapp die Verhältnisse in diesem Sport geregelt werden: Erst flog der Ball rechts unten an den Pfosten, weiter ging es links oben an den Pfosten und wieder ins Feld zurück. Dass der Rückraumschütze des TSV Hannover-Burgdorf überhaupt in eine solche Position kam, ist auch auf das Schicksal seines Kollegen Julius Kühn zurückzuführen, dem kurz vor Turnierstart das Kreuzband riss.

Doch auch Böhm musste erfahren, wie sich über Nacht die Lage ändern kann. Kurz vor Abpfiff gegen die Franzosen warf er den Ball einfach weg. Der entscheidende Fehler. Der Krieger war müde.

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