Deutsche Fans bei der Fußball-EM:Pauschalreisen sind doch langweilig

Schlechte Verkehrsverbindungen, teure Unterkünfte oder große Entfernungen: Nichts konnte Tausende deutsche Fans von ihrem Weg zum Spiel der DFB-Elf in Charkow abbringen. Im Gegensatz zu Schweden oder Holländern sind sie Meister der individuellen Planung - ihr Wissen wäre ein Schatz für jedes Reisebüro.

Thomas Hummel

Das Gebäude, in dem in Lemberg (Lwiw) die Fahrkarten für Züge verkauft werden, liegt in der Akademika-Hnatjuka-Straße Nummer 20. Es sind nur ein paar Meter von der Fanzone in der Innenstadt bis dorthin. Dennoch ist es äußerst wichtig, zu wissen, bei welcher Hausnummer man die Türe öffnen muss, sonst laufen praktisch alle Westeuropäer hier einfach vorbei. Die Schilder sind in kyrillischer Buchstaben (залізничні квиткові) beschriftet und die Eingangstür sieht aus wie jede andere.

Am Tag nach dem Portugal-Spiel sitzen hier zwei Gruppen deutscher Anhänger auf den Bänken. Sie wollen sich noch irgendwie ihren Weg bahnen zum zweiten Gruppenspiel der DFB-Elf in Charkow. Beide Städte liegen zwar in der Ukraine, aber auch mehr als 1000 Kilometer auseinander. Doch standen der Termin und der Ort des Duells mit den Niederlanden nicht seit dem 2. Dezember, dem Tag der Gruppenauslosung, fest? Das schon, erklären sie, aber es sei unmöglich gewesen, von zu Hause einen Transport innerhalb der Ukraine zu buchen, deshalb versuchen sie es jetzt hier.

Michael Gabriel steht zwei Tage später am Rande der Fanzone am Swobody-Platz in Charkow. Gabriel leitet in Deutschland die Koordinationsstelle Fanprojekte (Kos), die weitgehend vom Deutschen Fußball-Bund finanziert wird. Bei dieser Europameisterschaft organisieren Gabriel und sein Team wie bei den vergangenen Turnieren die deutsche Fanbotschaft, eine Art mobile Einsatzgruppe, die an den Spielorten der deutschen Mannschaft den mitgereisten Anhängern zur Seite steht. In Charkow haben sie einen kleinen Stand aufgebaut, deutsche Fans umzingeln die zwei Plastiktische und die zwei Sonnenschirme, wo unter anderem das Fan-Magazin Helmut ausliegt, das vor jeder deutschen Partie extra und aktuell in der Ukraine gedruckt wird.

Gabriel ist schon viel rumgekommen in der Welt mit dieser Botschaft, in Charkow sagt er verblüfft: "Die größte Überraschung ist, dass so viele deutsche Fans angereist sind." Deutschland absolviert seine Vorrundenspiele in der Ukraine, in einem Land, das weit weg und nicht gerade eine Feriendestination ist. Dennoch hatten in Lemberg gegen Portugal 12.000 Landsleute die deutsche Mannschaft angefeuert, in Charkow knapp vor der russischen Grenze waren es fast 10.000. "Und das trotz sehr weniger Informationen, trotz all der Unsicherheit" - Gabriel schüttelt leicht den Kopf.

Inlandsflüge waren schnell ausgebucht

Eine Unsicherheit lag darin, ein bezahlbares Hotelzimmer zu finden. Die schwierigste Frage aber war, wie man in der Ukraine reisen kann. Die inländischen Flüge waren schnell ausgebucht, etwaige Restplätze total überteuert. Außerdem konnte es passieren, dass eine der nationalen Fluglinien kurzfristig eine Verbindung aus dem Programm nahm. Eine Autoreise war zumindest gewagt, vor den Straßenverhältnissen in der Ukraine warnen sogar die Polen. Auch über die Ordnungshüter des Staates kursierten Gerüchte, man sei durch sie Willkür und Machtallüren ausgesetzt. Und für die lange angekündigten, neuen Schnellzüge zwischen den Spielorten kamen erst Ende Mai die Fahrpläne heraus. Angesichts dieser Vorgeschichte "ist die Zahl der Deutschen hier ein Wahnsinn", findet Gabriel.

In der Lemberger Tickethalle sind Schilder angebracht, auf der der Otto-Normal-Fan nichts lesen kann - alles mit kyrillischen Buchstaben ohne Übersetzung. Hinter den Schaltern sitzen Frauen mittleren Alters, und weil eine Frau hinter einem Schalter in der Ukraine der Boss ist, blicken sie nicht unbedingt serviceorientiert in den Raum. Doch die Stadt hat für die EM wie an vielen anderen Orten vorgesorgt: Eine sehr serviceorientierte, also freundliche, junge Frau unterstützt die Damen mit einwandfreiem Englisch. Sie übersetzt und hilft beim Kaufen der Tickets. Sie hat in diesem Moment so viel zu tun, dass sie nicht weiß, wohin zuerst. Aber bald haben alle Deutschen ihre benötigten Tickets oder zumindest die Information, dass ihr Trip nicht durchführbar ist.

Die meisten geben aber nicht auf und gehen weiter zum Busbahnhof oder zu einem Autoverleiher. Irgendwie muss es doch möglich sein, nach Charkow zu kommen! "Es gibt keine besseren Experten in der Organisation von Reisen als Fußballfans", schwärmt Michael Gabriel, "wenn die wüssten, was sie für ein Wissen haben, dann müssten alle Reisebüros aufmachen." Tatsächlich sind die Schnellzüge Richtung Ostukraine in den Tagen vor dem Holland-Spiel gut gefüllt mit Menschen in weißen oder grünen Trikots. Orange Trikots tauchen dagegen selten auf.

Sprachproblem mit Geduld und Gastfreundschaft lösen

Im Gegensatz zu den Deutschen reisen die Freunde der Elftal nicht so gerne individuell zu den Turnieren um die Welt. Die Niederländer oder auch die Schweden wenden sich in der Mehrzahl an ihre nationalen Dachorganisationen der Fußballfans, die über einen Reiseveranstalter eine Rundum-Versorgung bieten: Flug, Unterkunft, Tickets. In Charkow übernachten die Oranje-Fans in einem großen Zeltlager, natürlich in orangen Zelten. Die Schweden haben ihr Camp in Kiew auf der Truchanow-Insel inmitten des Dnjepr aufgeschlagen. Allerdings unter chaotischen Bedingungen: Es gibt keinen Strom, viel zu wenig Toiletten und der Sandboden ist nach einigen Regenschauern völlig aufgeweicht.

Fußball, Netherlands vs Germany

Belohnt für eine weite Reise: Im Stadion von Charkow feiern deutsche Fans den Sieg gegen die Niederlande.

(Foto: dpa)

Von den individuellen Deutschen hört Michael Gabriel dagegen wenig Negatives. Die ukrainische Polizei verhalte sich "sehr zurückhaltend und kommunikativ". Sie vermittelten den Eindruck, dass sich die Fans im Land frei bewegen dürften. Das Sprachproblem werde zumeist mit Geduld auf deutscher und Gastfreundschaft auf ukrainischer Seite gelöst. Viele Fans hätten bereits einen Leitspruch: "Es funktioniert nichts so wie man es erwartet, aber am Ende klappt alles."

Eine unliebsame Überraschung erlebten einige deutsche Anhänger allerdings an der polnisch-ukrainischen Grenze. Wer versuchte, mit einem deutschen Mietauto einzureisen, wurde abgewiesen, denn die Ukraine verlangt, dass der Halter des Autos einer der Einreisenden ist. DFB-Pressechef Harald Stenger berichtete nach dem Portugal-Spiel von einem Mann, der daraufhin sein Auto an der Grenze abstellte und die 70 Kilometer bis zum Stadion nach Lemberg mit dem Taxi zurücklegte. Andere stiegen in einen der seltenen Busse.

"Gegen Polen haben wir eine andere Situation"

Viele deutsche Fußballfans reizt offenbar das Abenteuer, in dieses unbekannte Land zu reisen und sich dort durchzukämpfen. Eher weniger sind in die Ukraine gekommen, um Ärger zu machen. Im Lemberg flogen ein paar Papierkugeln auf portugiesische Eckenschützen, eine Rauchbombe wurde im Block gezündet. Wegen des Papiers musste der DFB bereits 10.000 Euro Strafe an den europäischen Fußballverband Uefa bezahlen, das Verfahren wegen der Nebelkerze läuft. Der Übeltäter wurde aber nach Angaben des DFB noch im Stadion identifiziert und soll nach dem Willen des Verbands die Strafe übernehmen. Ansonsten blieb es rund um die deutschen Spiele völlig ruhig, den Krawallmachern war die lange Reise gerade in das abgelegene Charkow zu beschwerlich.

Sollte die deutsche Mannschaft im Viertelfinale aber in Polen spielen, könnte sich das ändern. "Vor allem, wenn auch noch Deutschland gegen Polen spielt. Dann haben wir eine andere Situation", so Gabriel. Nicht nur dem Otto-Normal-Fan wird eine Fahrt nach Danzig oder Warschau leichter fallen als ein Trip in die Ostukraine. Auch den Leuten, die rund um ein solches Spiel eigentlich niemand sehen will.

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