Süddeutsche Zeitung

Deutsche Eishockey Liga:Stolpergefahr auf dem letzten Meter

In der Endspielserie zwischen den Eisbären Berlin und Grizzlys Wolfsburg steht es 1:1, Spiel drei muss am Freitag die Entscheidung bringen. Von der Schwierigkeit, den letzten Schritt zu vollenden.

Von Johannes Schnitzler, Wolfsburg/München

Der erste Schritt? Oder der letzte? Welcher ist schwieriger? Die einen sagen: Jeder Weg beginnt erst einmal damit, dass man sich in Bewegung setzt. Also: der erste Schritt. Denkschule zwei fragt: Was, wenn sich der 100-Meter-Sprinter nach 99 Metern auf die Nase legt? Also: der letzte Schritt. Damit willkommen zu Philosophie am Freitag. Unsere Diskutanten: In der orangefarbenen Ecke die Grizzlys Wolfsburg, die am vergangenen Sonntag einen Sieg in Berlin vorgelegt haben; und in der Hauptstadt-Ecke die Eisbären, die am Mittwochabend mit einem 4:1 gleichzogen. Beide haben ihren ersten Schritt getan. An diesem Freitag (19.30 Uhr, Magentasport) fällt in Berlin die Entscheidung in der Deutschen Eishockey Liga (DEL): Wer Duell Nummer drei dieser verkürzten Finalserie gewinnt, ist Meister. Nach 266 Hauptrundenspielen in dieser von der Pandemie gepressten Saison, nach 19 Playoff-Spielen verdichtet sich alles auf diese eine Partie. "It's a one-game-winner-take-all", sagte Eisbären-Cheftrainer Serge Aubin. Alles oder nichts.

Die Eisbären kamen am Mittwoch so energisch aus der Kabine, als wollten sie zwei Spiele auf einmal gewinnen. "Wir waren hungrig und von Anfang an voll da", sagte Aubin über seine Mannschaft, die sich schon im Viertelfinale gegen Iserlohn und im Halbfinale gegen Ingolstadt jeweils zum Auftakt eine Heimniederlage geleistet hatte. "Heute mussten wir gewinnen. Alle waren im Spiel, das ganze Team war als Einheit besser." So, als bräuchten die Berliner den Druck des Gewinnen-Müssens. Grizzlys-Trainer Pat Cortina konstatierte: "Berlin war läuferisch stärker. Wir waren nicht so total engagiert wie am Sonntag." Seine Mannschaft sei "immer einen Schritt zu spät" gekommen.

Der Berliner Matchplan zeigt sich im 1:0: hart, aggressiv, aber kontrolliert

Die Gefahr, wenn man unbedingt gewinnen muss, ist die, dass man zu schnell zu viel will und kopflos wird. Die Eisbären setzten die Wolfsburger von Beginn an unter Druck, sie attackierten mit zwei, manchmal mit drei Spielern in der gegnerischen Zone und zwangen die Grizzlys zu Fehlern. Sie riskierten viel - aber sie hatten das Risiko unter Kontrolle. Und sie blieben geduldig. Bis Frank Hördler einen Wolfsburger Angriff unterband, Kai Wissmann Mark Zengerle auf die Reise schickte, der erst einen kapitalen Check einsteckte, den Puck aber in der Offensivzone hielt, die Scheibe wieder von Parker Tuomie zurück bekam und dann mit einem scharfen Pass die Wolfsburger Abwehr durchtrennte - auf den mittlerweile vors Tor geeilten Hördler, 36, Berlins mit sieben Meistertiteln dekorierten Abwehr-Veteranen, der ganz cool noch einen Haken schlug, sich den Puck auf die Rückhand legte und dann unters Tordach vollendete (17. Minute). Dieses 1:0 war der auf wenige Sekunden komprimierte Berliner Matchplan: aggressiv im Forechecking und in der neutralen Zone, mit Tempo ins Angriffsdrittel, vor dem Tor Ruhe bewahren.

Aus Wolfsburger Sicht war dieses 0:1 ein Wirkungstreffer, dem zwei weitere durch Ryan McKiernan (28.) und Sebastian Streu (31.) folgten. Und auch diese beiden waren beispielhaft für den Berliner Vortrag. Dem 0:2 von McKiernan - bereits der siebte Playoff-Treffer für den Verteidiger, Bestwert gleichauf mit Teamkollege Matt White - ging ein energischer Scheibengewinn von Leo Pföderl voraus und dann ein präziser Pass von Marcel Noebels, dem DEL-Spieler der Saison (wie im Vorjahr). Das 0:3 von Streu im dritten Nachfassen war schlicht Ausdruck des unbedingten Berliner Siegeswillens. Zwar verschaffte Gerrit Fauser den Niedersachsen mit seinem Überzahltreffer zum 1:3 (38.) noch ein wenig Hoffnung. Doch die Berliner blieben souverän. Den Schlusspunkt setzte Lukas Reichel, 18 und damit halb so alt wie Hördler, in der vorletzten Minute mit einem Schuss ins leere Tor. "Der Ball ist jetzt in unserer Hälfte", sagte Torschütze Streu. Auf gut Berlinerisch: Et läuft.

Noch einmal zur Frage: Erster oder letzter Schritt - welcher ist schwieriger? Den Eisbären darf man unterstellen, dass sie im jeweils ersten Spiel zu wenig Druck verspürten. Sie mussten ja nicht gewinnen. Und die Wolfsburger? Das Team, das in seinen ersten drei Anläufen auf den Titel 2011, 2016 und 2017 jeweils kurz vor dem Ziel im Finale stolperte? Noch nie waren sie so nahe am Meisterpokal wie an diesem Mittwoch. War der Druck zu hoch? "Vielleicht", sagte Trainer Pat Cortina. "Wir waren ein bisschen müde." Die Option, etwas zu verlieren, was man eigentlich noch gar nicht gewonnen hat, kann die Beine lähmen.

Cortina, 56, Kanadier mit italienischen Vorfahren und mit allen Fährnissen des Profisports vertraut, hatte es vor Spiel zwei mit Philosophie versucht: "Macht es mich zu einem anderen Menschen, wenn ich den Titel gewinne? Macht es mich zu einem anderen Coach?" Nein, natürlich nicht. Der erste Meistertitel für Wolfsburg würde es Grizzlys-Manager Charly Fliegauf aber erheblich schwerer machen, seinen Trainer ziehen zu lassen. Die Gespräche sind seit einem Tief vor Ostern bis nach dem Saisonende ausgesetzt. Ein bedingungsloses Bekenntnis sieht anders aus. Wäre es eine schlechte Saison, wenn sie am Freitag verlören? Nein. Aber es ist nun einmal Sport. Sieger ist, wer zuerst den letzten Schritt macht.

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