Deutsche Abwehr nach der EM-Qualifikation:Galant wie Musketiere

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Hat die Nationalmannschaft ein Abwehrproblem? In der Türkei und gegen Belgien zeigt sich die Verteidigung stark verbessert, vor allem Per Mertesacker spielt auf höchstem Niveau. Bundestrainer Joachim Löw will bei der Verbesserung der Defensivarbeit ohnehin viel weiter vorne ansetzen.

Thomas Hummel, Düsseldorf

Als Joachim Löw das Thema zu groß wurde, wollte er es genau wissen. Und wie immer, wenn der Bundestrainer etwas wissen will, ging er die Sache mit Akribie und Liebe zum Detail an. Hat seine Mannschaft ein Abwehrproblem? Oder nicht?

Ziemlich überzeugend: die Innenverteidiger Per Mertesacker (links) und Holger Badstuber. (Foto: dpa)

Antwort: Nein! Zumindest nicht in dem Maße wie ein Teil der Öffentlichkeit das sah, nach den Auftritten gegen Brasilien, Österreich und Polen im Sommer. Da erstaunte die deutsche Nationalmannschaft mit einem fulminanten Offensivspektakel, dafür wankte die Abwehr gerade bei schnellen Kontern bedenklich und es gab auch jedes Mal zwei Gegentore.

Schon damals widersprach Löw den Kritikern: Vor jedem großen Turnier zuletzt habe es eine gewisse Panik gegeben beim Gedanken an die Defensive. Aber in allen Qualifikationsspielen in der Vergangenheit und auch bei der WM 2006, der EM 2008 und der WM 2010 "haben wir im Schnitt nie mehr als ungefähr 0,5 Gegentore pro Spiel bekommen", sagte Löw am Dienstag in Düsseldorf und fügte an: "Da kann man doch nicht von einem Problem in der Defensive sprechen."

Löw weiß es sogar genauer und wenn er nicht gerade beim Fernsehen steht, wo die Antworten kurz und prägnant sein müssen, kann er die Zahlen auch referieren. Er spricht dann von 0,48 Gegentoren in dieser Qualifikation und 0,55 in jener. Und schließt dann: "Wir werden es auch bei der EM im nächsten Jahr wieder hinkriegen, eine standfeste Abwehr zu haben."

Der kritische Teil des deutschen Publikums, den es trotz allem noch geben soll, musste nun verblüfft feststellen, dass ihre Eliteabwehr schon im Herbst 2010 ziemlich standfest daherkam. Sowohl in der Türkei (3:1) wie auch am Dienstagabend in Düsseldorf gegen Belgien (3:1) bewahrte eine gute Verteidigungsarbeit (plus Torwart Manuel Neuer) die Mannschaft gegen schwungvoll startende Gegner vor einem Rückstand.

In Istanbul tat sich der Münchner Holger Badstuber in der Innenverteidigung mit einer tadellosen Leistung hervor, in Düsseldorf erhielt der Dortmunder Mats Hummels ein Extralob des Bundestrainers: Er habe "ein Klassespiel gemacht, gerade im Zweikampf." Und in beiden Partien zeigte auch Per Mertesacker, warum ihm Löw bei jeder Gelegenheit "das volle Vertrauen ausspricht".

Der 1,98 Meter große Hannoveraner ging zusammen mit Christoph Metzelder als erster deutscher Vertreter der Post-Blutgrätschen-Ära in die DFB-Geschichte ein. Bis dahin galten giftige Tackler und Hart-am-Mann-Werkler wie Jürgen Kohler oder Christian Wörns als stilbildend. Heute trabt der große Mertesacker ganz und gar unkohlerhaft über den Rasen, was ihm immer wieder auch das Misstrauen des Publikums einbrachte. Kleine Formkrisen, in denen das Defizit an Antrittsschnelligkeit nicht mehr zu leugnen war, förderten das Misstrauen.

Doch nach einer langwierigen Verletzung und seinem Wechsel von Bremen zum FC Arsenal nach London ist Mertesacker nun wieder austrainiert und auf der Höhe seiner Fähigkeiten. Und dann fällt der Verteidiger trotz seiner unauffälligen Spielweise extrem auf. Im positiven Sinne.

Lange Bälle in die Spitze köpfte Mertesacker sicher zum eigenen Mitspieler, selbst in Bedrängnis. Wollte der Gegner durch eine Schnittstelle der Viererkette passen, ahnte es Mertesacker schon vorher und versperrte mit seinen langen Beinen den Weg. Gerade gegen die talentierten Belgier zeigte er zudem seine Stärken im Bodenkampf, keinem Gegenspieler gestattete er ein erfolgreiches Dribbling.

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Thomas Hummel, Düsseldorf

Dabei beging Mertesacker kein in Erinnerung gebliebenes Foul und ein schlimmer Fehlpass beim Spielaufbau war ebenfalls nicht dabei. Er spielte im Stile eines Musketiers: Selbst im wildesten Kampf stets aufrecht und galant, gewiefter als der Gegner und immer mit der besseren Lösung. Dass er beim Gegentor zum 1:3 kurz vor Schluss das Kopfballduell gegen Marouane Fellaini verlor, wollte ihm wegen der nachlassenden Spannung im Spiel niemand als Minuspunkt anrechnen.

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Thomas Hummel, Düsseldorf

Mertesacker aber, stets ein schlauer Analyst der Lage, weiß um seine Konkurrenz. Arne Friedrich, sein überragender Partner in Südafrika, wird zwar nicht mehr zurückkehren in den DFB-Kreis. Doch mit Badstuber, 22, und Hummels, 22, sind erhebliche Mitbewerber herangewachsen. Und eigentlich wollen auch Jérôme Boateng, 23, und Benedikt Höwedes, 23, lieber innen spielen, müssen sich aber wohl mangels Alternativen um den Platz rechts hinten streiten.

"Wir sind relativ gut besetzt in der Innenverteidigung", urteilte Mertesacker in Düsseldorf. Sein ironisches Lächeln dabei drückte aus, was er eigentlich meint: Wir sind bombastisch besetzt! "Wer am Ende bei der EM spielt, das entscheidet wohl die Klubsaison und auch die Länderspiele bis dahin", glaubt er, weshalb "wir nicht nachlassen dürfen".

Er meint: Er darf nicht nachlassen. Dabei glaubt er, sich durch seinen Schritt in die Premier League abermals verbessern zu können. "In England ist viel Tempo im Spiel, da kann man sich weiterentwickeln", berichtete er.

Löw wird das gerne hören, wenngleich er bis zur EM den Fokus der Abwehrarbeit auf die Mannschaftsteile weiter vorne legen will. Die Offensivspieler und das Mittelfeld sollen bereits das Spiel des Gegners unterbinden und das Geschehen "weghalten von der Abwehr". Auch Kapitän Philipp Lahm sieht hier Steigerungsbedarf: "Defensiv müssen wir besser zusammenarbeiten."

Denn trotz aller Euphorie über die kunstvollen Siege schwant der deutschen Elf, dass die EM neue Herausforderungen birgt. "Es wird auf uns zukommen, dass die Gegner wieder gleichstark sind und es nur auf Kleinigkeiten ankommt", versicherte Per Mertesacker. Im fortgeschrittenen Fußballjahr 2011 könnte es durchaus sein, dass dies jemand vergessen hat.

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