Derby:Auf der rheinischen Achterbahn

Borussia Mönchengladbach - Bayer Leverkusen

Ausgelassene Chancen, kapitale Ballverluste: Gladbachs Nico Elvedi (l.), Oscar Wendt und Maskottchen Jünter beklagen den nächsten Rückschlag.

(Foto: Marius Becker/dpa)

Wildes Spiel zweier junger Teams: Binnen 33 Minuten verwandelt Leverkusen ein 0:1 in Gladbach in einen 5:1-Sieg.

Von Ulrich Hartmann, Mönchengladbach

Dieter Hecking ist Vater von fünf Kindern. Der 53-Jährigen ist mit jugendlichem Leichtsinn vertraut, weshalb er als Trainer von Borussia Mönchengladbach selbst nach fünf Gegentoren binnen 33 Minuten ungefähr so liebevoll über seine Fußballer sprach wie ein gütiger Vater über die chaotische Pubertät. "Jugendlicher Wahnsinn", schmunzelte Hecking, sei wohl mit ausschlaggebend gewesen für seine "allzu enthusiastisch" aufspielenden Jungs und damit auch für jene fünf Gegentreffer, die Borussia Mönchengladbach zwischen der 48. und der 81. Minute gegen Bayer Leverkusen einstecken musste.

So wurde aus einer 1:0-Pausenführung am Ende eine 1:5-Klatsche. Wer als Zuschauer zum falschen Zeitpunkt erst die Räumlichkeiten und dann sogleich die Bierausgabe aufsuchte, verpasste maßgebliche Höhepunkte der Vorstellung.

Die Blamage freilich könnte für Gladbach noch in eine vollständige rheinische Demütigung ausarten. Sind sie am Samstag noch von Bayer Leverkusen düpiert worden, so könnte am Dienstag im DFB-Pokalspiel beim Zweitliga-Tabellenführer Fortuna Düsseldorf schlimmstenfalls eine weitere Ernüchterung bevorstehen. Die Arena in der Nachbarstadt ist mit mehr als 50 000 Zuschauern längst ausverkauft. Die Fortuna lauert voller Vorfreude auf einen angeschlagenen Gegner. Den Gladbachern droht ein nasskalter Herbst.

Mit 17 Gegentreffern aus neun Spielen traut sich in Mönchengladbach derzeit niemand mehr, den Begriff Europacup in den Mund zu nehmen. Nach dem 1:6 in Dortmund gab es nun schon wieder einen Schlag auf die wunde Stelle namens Abwehr. Das Gegenpressing ist derzeit nicht von internationalem Niveau, eher von zweitklassigem, weshalb es gegen die in elf Spielen neunmal siegreichen Düsseldorfer gewiss schwer werden wird. Gladbachs Versäumnisse gingen diesmal vom Auslassen bester Torchancen nahtlos in kapitale Ballverluste im Mittelfeld über. In der Defensive fehlte mit Christoph Kramer, dem wieder mal verletzten Weltmeister von 2014, der zentrale stabilisierender Spieler.

Nachdem Borussia-Torwart Yann Sommer vor dem ersten Gegentor unglücklich durch den Fünfmeterraum gesegelt war, verloren vor den nächsten drei Gegentreffern nacheinander Lars Stindl, Mickaël Cuisance und Nico Elvedi fatal den Ball. Daraufhin rannten die Borussen den schnellen Kontrahenten nur noch hinterher. "Manchmal fehlt der Mannschaft ein Gefühl für Gefahren", sagt der Sportdirektor Max Eberl. Er hat einen Sohn und weiß ebenso gut um die Sünden der Jugend.

Völler zeigt Verständnis: "So junge Spieler können nicht jede Woche eine Topleistung abliefern."

Beim finalen fünften Treffer spielten die Leverkusener schließlich aus dem Ballbesitz heraus vorbildlich in den Rücken der Gladbacher Abwehr. Der Kantersieg hatte einen gewissen therapeutischen Charakter für die ebenfalls immer recht wechselhaft auftretenden Fußballer aus dem Bayer-Werk. Allzu euphorisch dürften sie deshalb aber kaum werden, schließlich waren ihnen schon beim 4:0 gegen Freiburg und beim 3:0 gegen Hamburg Befreiungsakte gelungen, die sich am Ende aber bloß als vermeintliche Befreiungsakte entpuppten. Leverkusens hochveranlagte Mannschaft benötigt mehr Konstanz und ebenfalls weniger jugendlichen Wahnsinn, denn, ja, auch die Bayer-Fußballer leiden bisweilen unter dem Gladbacher Syndrom: spektakuläre Attacke mit bisweilen viel zu wenig defensivem Verstand.

In Kai Havertz, 18, Panagiotis Retsos, 19, Leon Bailey, 20, Jonathan Tah und Julian Brandt, je 21, war gut ein Drittel des eingesetzten Personals blutjung. Bei den Gladbachern waren es in Cuisance, 18, Denis Zakaria, 20, und Elvedi, 21, nur zwei weniger.

"Eigentlich machen wir es schon die ganze Saison über ganz gut", beschwichtigt Sportchef Rudi Völler grundsätzliche Skeptiker und nennt die Kreation von Chancen als große Stärke - im Gegensatz zur Effizienz, bei der die Leverkusener vor diesen 33 Minuten von Mönchengladbach zu den schwächeren Teams der Liga gezählt hatten. Diesmal gelang ihnen aber wirklich alles, so, als habe das Schicksal beschlossen, ihnen die letztwöchigen Bemühungen im Bonusmodus zu vergelten. "Fünf Tore mit sechs Torschüssen nenne ich mal effizient", sagte Gladbachs Manager Eberl auch deshalb in anerkennendem Ton, weil seiner eigenen Mannschaft in just diesem Spiel viel zu wenige Tore aus viel zu guten Chancen gelungen waren.

Und so geht die wilde Achterbahnfahrt zweier verheißungsvoller Teams im Rheinland wohl weiter. Aus dem Mittelfeld der Tabelle heraus suchen sie fortan nach einer Richtung, aber gemessen an den potenziellen Lernfaktoren in den vergangenen Wochen könnten sich beide nun sukzessive weiter nach oben arbeiten. "So junge Spieler können nicht jede Woche eine Topleistung abliefern", sagt Völler verständnisvoll. Auch Bayers Sportchef ist mit vier eigenen Kindern recht geübt in Sachen Geduld.

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