Süddeutsche Zeitung

Der FC Bayern vor dem Finale:Flutlicht auf dem Mount Everest

Der FC Bayern ist und bleibt eine Flutlicht-Elf, erfunden für die großen Bühnen, nicht fürs Hinterzimmertheater. Er spielt keinen Trainerfußball, er spielt Vereinsfußball. Der FC Bayern gewinnt nie gegen Dortmund, aber vielleicht die Champions League - sieben Thesen zu einem einzigartigen Verein.

Christof Kneer und Moritz Kielbassa

"Das Champions-League-Finale ist das Highlight in der Geschichte des FC Bayern. Wenn man weiß, wie viele große Momente der FC Bayern erlebt hat, ist damit fast alles gesagt." - Uli Hoeneß

Mia san Uli

Das Jahr 2012 ist ein Schaltjahr, es hat einen Tag mehr als sonst. Weltweit gilt der 29. Februar als Schalttag, aber die Säbener Straße 51 in München ist bekanntlich nicht von dieser Welt. Dort gelten eigene Gesetze ("mia san mia"), dort verkehren Lichtgestalten, Titanen und Rostbratwurstbarone, und es versteht sich von selbst, dass man sich dort auch nach einem eigenem Kalender richtet.

Der Säbener Kalender weist in diesem Jahr den 19. Mai als Schalttag aus. Das ist der Tag, der außer der Reihe dazukommt, den es sonst nicht gibt. Noch nie hat ein Verein ein Champions-League-Finale in der eigenen Stadt spielen, gar: gewinnen dürfen - auf diesen Tag lebt die Säbener Gemeinde seit Monaten hin, trotz früherer Dementis des Bratwurstbarons. Ein Sieg in diesem Spiel, an diesem Tag wäre noch bedeutender als die großen Siege der 70er-Jahre oder der von 2001.

Er wäre die Krönung für das Mia-san-mia-Glaubensbekenntnis von Uli Hoeneß, eine nötige Bestätigung fürs pralle Selbstbewusstsein der Familie - und für die Spieler eine Erleichterung von historischem Ausmaß. "Eine Saison ohne Titel ist bei Bayern eine verlorene Saison, auch wenn man in zwei Finals stand und Zweiter in der Meisterschaft war", sagt tapfer Kapitän Philipp Lahm.

Ein Sieg am 19. Mai würde die Spieler endlich emanzipieren - von Typen wie Stefan Effenberg und Oliver Kahn, bei denen sie täglich erleben müssen, wie sie wegen des Champions-League-Siegs 2001 als Ikonen verehrt werden; und erst recht von diesen lästigen Dortmundern, die Lahm, Schweinsteiger und die weiteren Bayern-Nationalspieler bald im Trainingslager der Nationalelf wiedersehen. Wenn die Bayern mit dem Champions-League-Titel anreisen, können sie den Dortmundern mit kerngesunder bayerischer Hybris zu ihrem niedlichen, kleinen Double gratulieren.

Was zu der Frage führt, die sich auf dieser Welt und speziell in der Welt an der Säbener Straße derzeit alle stellen: Wie kann es sein, dass der FC Bayern in der heimischen, kleinen Welt fünf Mal gegen Dortmund verliert, aber in der großen, weiten Welt hoch verdient gegen Real Madrid weiterkommt und jetzt vielleicht sogar den größten Titel im Vereinsfußball gewinnt?

Die Antwort könnte sein, dass der FC Bayern einzigartig ist. Während anderswo diese modern gebauten Teams meistens ein Abbild ihrer Trainer sind, während sie ihnen zum Teil wie einem Guru an den Lippen hängen (Dortmund), ist die Münchner Mannschaft schon immer und immer noch ein Abbild des Vereins. Der FC Bayern spielt keinen Trainerfußball, er spielt Vereinsfußball.

Und zum Verein gehört es seit der aktiven Zeit des Rostbratwurstbarons, sich über die höchste Ebene zu definieren. Der FC Bayern ist und bleibt eine Flutlicht-Elf, erfunden für die großen Bühnen, nicht fürs Hinterzimmertheater. Der FC Bayern steigt leichter auf den Mount Everest als auf den Fröttmaninger Berg (stadionnahe Erhebung auf einer 75 m hohen ehemaligen Mülldeponie).

So gesehen ist auch der 2012er-Jahrgang eine durch und durch bajuwarische Elf, trotz oder wegen der zuagroasten Primadonnen aus Holland und Frankreich. Wer Franck Ribérys defensive Lauflust im Pokalfinale gegen Dortmund mit jener im Champions-League-Halbfinale in Madrid verglich, erkannte schnell, dass hier ein Spieler feine Unterschiede macht.

Gegen Real quälte sich Ribéry, als wolle er den Mount Everest bezwingen. Gegen Dortmund lag das Engagement ungefähr auf Zugspitzenniveau. Und wenn sie in Freiburg oder Mainz spielen, nähert sich der Arbeitseifer mitunter dem Fröttmaninger-Berg-Bereich.

Wer Lust hat, mal wieder richtig schön angeschnauzt zu werden, der könnte Uli Hoeneß nach einem Sieg gegen Chelsea mal fragen, wie viel Anteil Louis van Gaal an diesem Erfolg hat. Wer es nicht mehr weiß: Van Gaal war der Mann, der den Fußball erfunden und deshalb immer Recht hat. Er war der Mann, der versucht hat, den Münchner Mia-san-mia-Fußball in einen Mia-san-ich-Fußball zu verwandeln.

Am Ende ist er daran gescheitert, dass sein "ich" größer war als das bayerische "mia", aber ein Teil seines mount-everest-großen Egos lebt in dieser Mannschaft unverkennbar weiter. Bevor van Gaal in die Stadt kam, haben sie bei Bayern ja die Mia-san-mia-Mentalität und den Führungsspieler für Taktik gehalten; erst van Gaal hat die Mythen als Folklore entlarvt und dem Klub einen Sinn für Strategie vermittelt.

Noch heute, das sagen viele Bayern-Spieler ohne falsche Scheu, profitieren sie in der täglichen Praxis von den Theorien des alten Spötters. Van Gaal hat jede Position im Spiel nach holländischer Art präzise definiert, er hat Ball- und Laufwege automatisieren lassen und der Elf ein stabiles Geländer an die Hand gegeben, an dem sie sich noch heute gerne und mit großem Gewinn festhält.

Allerdings, auch das sagen die Bayern-Spieler ohne falsche Scheu, hat van Gaal über keinen einzigen Quadratmillimeter dieses Geländers diskutieren lassen. Er hat Verteidiger wie Badstuber angewiesen, ihre Posten im Abwehrzentrum zu verlassen und ins Mittelfeld vorzurücken, bevor der Gegner einen Pass spielt. Ein gewagter Befehl, der abenteuerliche Räume öffnete - Räume, in die zum Beispiel Inter Mailand im Champions-League-Finale 2010 mit Wonne vorstieß.

Für Jupp Heynckes war es die erste Amtshandlung, die trotzigen handwerklichen Absonderlichkeiten des van-Gaal-Systems rückgängig zu machen. Heute rückt Badstuber erst vor, nachdem der Gegner gepasst hat - schon steht die Abwehr sicher. Es sei denn, Boateng grätscht oder es geht gegen Dortmund.

Jetzt, ganz am Ende und kurz vor der großen Krönung dieser Saison, drängen noch einmal ein paar Sätze aus jener Regierungserklärung auf, die Heynckes' im Sommer 2011 sprach. Man müsse weg vom reinen Ballbesitz und Dominanzfußball, sagte er und empfahl, auch das sog. Umschaltspiel ins Repertoire aufzunehmen; als Beispiel soll er die Balleroberungsqualitäten von Dortmund herbeizitiert haben, was heute natürlich keiner mehr bestätigt.

In der Vorrunde staunte die Konkurrenz tatsächlich über die frische Farbe im Bayern-Spiel, aber der Saisonverlauf zeigte, dass es sich bei den neuen Balleroberungsansätzen weniger um ein akademisches Pressing handelte als eher um eine Art Willenspressing - gemäß der alten Leitthese von Uli Hoeneß, dass es läuft, je mehr die Spieler laufen.

Die Bayern waren ja immer eine laienfreundliche Elf, man musste nie Fachchinesisch können, um ihr Spiel zu verstehen. Fachanalysen funktionieren traditionell über Sekundärtugenden: Sind die Kerle heiß und willig, können sie dank ihrer außerordentlichen Qualitäten hinreißend kicken. Modern? Unmodern? Das sind keine Kriterien für diese Elf, für solche Kriterien ist sie dann viel zu gut.

Die Bayern wissen, dass sie gegen Chelsea a bisserl Dortmund wagen müssen, auf ihre eigene, aus der Titelbesessenheit resultierende Art, mit viel Lust am Zweikampf. Nicht, dass es vor lauter Quergepasse so kommt wie gegen die Original-Dortmunder - auch Chelsea kontert ja nach Ballgewinn scharf und präzise, auf schnellstem Wege gelangt die Kugel z.B. von Lampard zu Drogba. Aber es macht den Bayern-Fans Hoffnung, dass es am Willenspressing im größten Spiel aller Spiele ganz sicher nicht fehlen wird.

Der FC Bayern ist nichts ohne die Künste von Franck Ribèry und Arjen Robben, der FC Bayern ist viel zu abhängig von den Künsten von Franck Ribèry und Arjen Robben. Es sind sehr konträre Thesen, die rund um den Verein im Umlauf sind - welche These gerade mehr Anhänger hat, hängt zumeist vom Ergebnis des vergangenen Wochenendes ab.

Wer die Historie des FC Bayern verfolgt, erkennt in Rib & Rob zwei Spieler, die sich perfekt in die Geschichte dieses Vereins fügen. Der FC Hollywood zählt ebenso wie das weiße Ballett in den Mythenschatz dieses Vereins, beides findet sich in Rib & Rob wieder - der Segen, zwei Spitzen-Artisten zu haben ebenso wie der Fluch, zwei Diven zu beschäftigen, die sich nicht immer das Schwarze unterm Fingernagel, geschweige denn die Ausführung eines Freistoßes gönnen.

Auch in Zeiten des von der Kritik verherrlichten Konzeptfußballs bekennt sich der FCB zum Heldenfußball. An mäßigen Tagen ist das Spiel durch Rib & Rob relativ leicht zu entziffern, aber wenn die Helden Lust & Laune haben, müssen die Bayern niemanden fürchten.

Lahm & Schweinsteiger müssten langsam mal was gewinnen, finden jedenfalls Effenberg & Kahn, die Ikonen von 2001. Die Debatte um die beiden Endzwanziger lenkt davon ab, dass die Bayern mit einer beneidenswerten Elf ins Finale gegen Chelsea gehen - es ist eine Elf, die nicht am Ende eines Weges steht wie die sehr reife Elf von 2001.

Kroos, Müller, Badstuber, Boateng sind gerade dem U21-Alter entwachsen, Alaba steckt noch drin, Gomez und Neuer stehen in voller Blüte, Lahm und Schweinsteiger sind die jüngsten Routiniers der Welt. Für diese Elf endet nichts im Finale dahoam, sie braucht keinen Umbruch, ihre taktischen Schätze sind noch längst nicht alle gehoben.

Das führt zu einigen Fragen, die vor dem Schalttag am 19. Mai 2012 keinen Menschen interessieren, danach aber umso mehr. Der FC Bayern wird ja vermutlich weiterexistieren nach diesem Spiel der Spiele, und auch ein Weltuntergang unmittelbar nach Abpfiff gilt als eher unwahrscheinlich.

Die Fragen lauten: Wem also wollen die Bayern ihre Perspektiv-Elf künftig anvertrauen? Wer wird - und wann - Nachfolger von Heynckes, wenn der seinen Job als Moderator und Friedensstifter erfolgreich erledigt haben wird? Trauen sich die Bayern-Bosse danach einen konzeptionell arbeitenden Coach zu, der das Heldenprinzip aufweicht, verändert, vielleicht: abschafft?

Aber jetzt muss der Klub erstmal dieses Spiel spielen, und er muss die psychologischen Folgen dieses Spiels aushalten. Der FC Bayern wird nach diesem Spiel eine Mannschaft haben, die entweder sehr traurig ist, oder er hat eine Mannschaft mit großer Zukunft, die schon in der Gegenwart am Ziel aller Ziele ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1360781
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.05.2012/fred
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.