Der Fall Kumaritaschwili:Der falsche olympische Gedanke

Schneller, höher, weiter - das war zuletzt das wahre Motto der Spiele. Nach der Tragödie um den georgischen Rodler braucht Olympia Entschleunigung.

René Hofmann

Die Olympischen Spiele werden geprägt von Ritualen und Formeln. Ein Motto lautet: "Dabei sein ist alles." Ein anderes "Höher, weiter, schneller". Ein drittes, trauriges, nicht so gern gehörtes: "The games must go on" - die Spiele müssen weitergehen.

Der Fall Kumaritaschwili: "Schneller, höher, waghalsiger" - Ist Rodler Nodar Kumaritaschwili Opfer einer fehlgeleiteten olympischen Idee geworden?

"Schneller, höher, waghalsiger" - Ist Rodler Nodar Kumaritaschwili Opfer einer fehlgeleiteten olympischen Idee geworden?

(Foto: Foto: ddp)

Avery Brundage, damals Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, sprach den Satz 1972 in München, nachdem palästinensische Terroristen elf Athleten der israelischen Mannschaft als Geiseln genommen hatten, von denen keine den Angriff und den Befreiungsversuch durch die deutschen Behörden überlebte.

Die Worte mögen im ersten Moment zynisch klingen, trotzig. Aber die Haltung hat auch etwas Kraftvolles: Die Ideen, für die Olympia steht, sind es wert, auch in schwierigen Momenten weitergetragen zu werden.

Olympia soll vor allem ein Fest für die Sportler sein, die sich mitunter jahrelang auf diese Wettbewerbe vorbereitet haben. Die Wettbewerbe auszusetzen hieße, Unbeteiligte zu bestrafen. In diesem Sinne ist es richtig und logisch, dass das Sportfest in Vancouver trotz des Todes von Nodar Kumaritaschwili begonnen hat, der kurz vor der Eröffnungsfeier von seinem Rodel stürzte und aus dem Eiskanal gegen einen Stahlträger geschleudert wurde. Unbeschwerte Spiele können es nun nicht mehr werden, aber - wenn mit der Situation angemessen umgegangen wird - immer noch wegweisende.

Polit-PR statt Trauerarbeit

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) und die kanadischen Veranstalter reagierten auf Kumaritaschwilis Tod angemessen. Die Eröffnungsfeier wurde ihm gewidmet, die Flaggen wurden auf halbmast gesenkt, es wurde seiner würdig gedacht.

Weniger untadelig war dagegen das Verhalten des Rodel-Weltverbandes, der nur wenige Stunden nach dem fatalen Unfall schon herausgefunden haben wollte, dass ein Fahrfehler der alleinige Grund für das Unglück gewesen sei und es am Kurs nichts zu beanstanden gebe. Trotzdem wurden Kumaritaschwilis aufgewühlte Kollegen schließlich ein paar Meter weiter unten zum Wettbewerb in den Eiskanal geschickt. Eine widersprüchliche Reaktion.

Einigermaßen deplatziert schließlich war der Auftritt des georgischen Staatspräsidenten Micheil Saakaschwili, der, nach wenigen Trauerformeln, stolz verkündete, er werde einen Eiskanal bauen und nach dem tödlich verunglückten Kumaritaschwili benennen. Das war Polit-PR statt Trauerarbeit.

Unglücke passieren. Sie werden sich nie ausschließen lassen, auch in der heilen Welt nicht, die Olympia so gerne wäre. Das Entscheidende ist, wie mit ihnen umgegangen wird. Nach einem tödlichen Unfall darf man nicht selbstverständlich zur Tagesordnung zurückkehren. "The games must go on"- das heißt nicht: "Business as usual", einfach weiter so. Der Umgang mit der Tragödie wird deshalb ein Gradmesser für den olympischen Sport sein.

Junge Zielgruppe umgarnen

Schneller, höher, waghalsiger - das war zuletzt das wahre Motto der Bewegung. Schon der Eiskanal, in dem 2006 bei den Spielen in Turin gerodelt wurde, galt als bedenklich. Bei den Snowboardern wuchsen die Wände der Halfpipe seit dem Olympia-Debüt der Sportart 1998 bei jeden Spielen an, um immer gewagtere Tricks zu ermöglichen.

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In Kanada gibt es zudem eine neue Attraktion: Erstmals dürfen vier Skifahrer gleichzeitig auf die Piste - Skicross heißt das Spektakel. In zehn der 15 Sportarten der Winterspiele müssen die Protagonisten Helme tragen. Der Flirt mit der Gefahr gehört längst zum Kick. Der italienische Skirennfahrer Werner Heel sagte in Whistler mit Blick auf die Abfahrtsstrecke bedauernd: "Es fehlt der Teil, wo du dir sagst: Du gehst raus und musst zum Sterben bereit sein."

Die Spiele sind auf dem Weg zu einer Stunt-Show, und das IOC tut wenig, um diesen Trend zu bremsen. Was dahintersteht, ist leicht zu entschlüsseln. Die Sport-Verkäufer müssen sich sorgen, dass ihre Show die Jugend nicht mehr erreicht. Ein Marathon auf Langlaufski oder Schlittschuhen produziert selten spektakuläre Bild-Schnipsel, die auf Internetplattformen wie Youtube gerne geklickt werden. Der Wunsch, die junge Zielgruppe zu umgarnen, ließ sich auf der Eröffnungsfeier beobachten: Dort tanzten tätowierte Geiger, Pop-Größe Nelly Furtado sang - ganz neue Töne und Bilder im ehrwürdigen Rahmen.

Nach dem Unglück müssen sich die Verantwortlichen allerdings fragen lassen, ob sie nicht schon ein paar Schritte zu weit gegangen sind und ob einige Sportarten nicht dringend entschleunigt werden müssen. Damit bei den nächsten Spielen auch wirklich alle dabei sein können, die dabei sein wollen.

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