Er wisse noch genau, wie er damals, 1994, mit fünf Jahren auf den Rängen des Augsburger Curt-Frenzel-Stadions gestanden sei und seine Helden angefeuert habe, sagt Alexander Oblinger. Und fast möchte man ihn bedauern für sein gutes Gedächtnis. Denn Oblingers Erinnerung an jene Zeit vor drei Dekaden, als die Deutsche Eishockey Liga (DEL) ihre erste Saison spielte, wurde zuletzt aufgefrischt durch eine krachbunte Design-Scheußlichkeit aus ebenjenen Neunzigern, im blumigen PR-Jargon als „Retrotrikots“ angepriesen. Aus Anlass des Jubiläums „30 Jahre DEL“ trugen die Teams in einigen Partien der vergangenen Saison Jerseys aus den Anfangsjahren der Liga, die mindestens so bunt waren wie die damalige Trikotmode. Aber in Oblingers Retrospektive leuchten Namen auf wie Harry Birk oder Sven Zywitza, Idole für den kleinen Alexander.
Der Augsburger Oblinger ist ein guter Zeuge, wenn man über die Entwicklung der Liga sprechen will, die im September 1994 mit einem Spiel zwischen den Augsburger Panthern und den Maddogs aus München eröffnet wurde. Oblinger, 35 mittlerweile, ist, was man ein Kind der Liga nennt, seit 15 Jahren Profi mit einer bewegten Vita. 2009 wurde der Nachwuchsstürmer mit Berlin Meister, 2014 war er einer der Leistungsträger beim Titelgewinn der Panther aus Ingolstadt, davor und danach spielte er für Nürnberg, Straubing und Köln. Augsburg, seine Heimatstadt, verließ er mit 13 Jahren, um in Berlin aufs Eishockey-Internat zu gehen. Erst zur vergangenen Saison kehrte er zurück. Verglichen mit seinen Anfängen, sagt er, habe sich „alles verändert, das Spiel, die Spieler, alles – bis auf die Tatsache, dass man am Ende immer noch ein Tor mehr geschossen haben muss als der Gegner“.
Die TV-Zuschauerzahlen haben sich seit dem Beginn der Live-Übertragungen verdreifacht
Oblingers Beobachtung lässt sich mit Zahlen belegen. In der vergangenen Saison besuchten durchschnittlich 7162 Zuschauer die Partien an den 52 Spieltagen der Hauptrunde (in den Playoffs waren es noch ein paar mehr), so viele wie nie zuvor und mehr als in jeder anderen Eishockeyliga in Europa. Selbst der Tabellenletzte Augsburg meldete 14 seiner 26 Heimspiele als ausverkauft, die Stadionauslastung lag bei weit über 90 Prozent. Der Gesamtumsatz der 14 DEL-Klubs stieg in den vergangenen zehn Jahren von rund 100 Millionen auf mehr als 170 Millionen Euro – ebenfalls neuer Höchstwert. Den größten Zuwachs erlebte die DEL aber in den Wohnzimmern: TV-Partner Telekom verzeichnete in der vergangenen Saison rund 25 Millionen Abrufe – ein Plus von fast 20 Prozent im Vergleich zur Vorsaison und rund dreimal so viele wie zu Beginn der Übertragungen durch Magentasport vor acht Jahren.
Gernot Tripcke, seit 2000 Geschäftsführer der DEL und soeben mit einem neuen Vertrag bis 2028 ausgestattet, klingt entsprechend zufrieden. Man habe das Corona-Delta erfolgreich durchschritten, die Prognosen sind durchweg positiv. Tripcke führt die Zugewinne der Liga auf die flächendeckenden Live-Übertragungen und die digitale Selbstvermarktung der Klubs zurück. Selbst die Krise bei VW, sowohl in der Liga als auch international einer der wichtigsten Geldgeber im Eishockey, beunruhigt Tripcke nicht: Die DEL und ihre Gesellschafter könnten sich auf langfristige Verträge und strategische Partnerschaften stützen. Und sollte VW seine Sponsoring-Etats zurückfahren, „dann sollen sie halt für die Fußballer in Wolfsburg einen Ersatzspieler weniger verpflichten, da können sie mehr sparen“. So gut war die Laune nicht immer.
„Die DEL hat nach Corona einen Riesenschritt gemacht“, sagt Alexander Oblinger. Dass er und die Panther an diesem Donnerstag wie vor 30 Jahren die Liga eröffnen dürfen, gegen Ingolstadt diesmal, haben sie indes weniger ihrem Können als einer großen Portion Dusel zu verdanken. Zweimal nacheinander stand Augsburg, eines von nur fünf durchgehend erstklassigen Gründungsmitgliedern der Liga, sportlich als Absteiger fest. In der DEL bleiben durften die Schwaben nur, weil Zweitligist Kassel als Bewerber jeweils am Aufstieg scheiterte (und die Finalsieger der DEL2 ihrerseits nicht aufsteigen wollten). Aber: „Wenn man 100 Leute aus dem Eishockey fragen würde, würden 99 sagen, dass Augsburg in die Liga gehört“, sagt Panther-Sportdirektor Larry Mitchell (die Gegenstimme, dafür muss man kein Hellseher sein, käme mutmaßlich aus Kassel).
Auch Mitchell kennt die Liga aus dem Effeff. 2010 führte er Augsburg als Trainer ins Finale, bis heute der größte Erfolg für die Panther. Nach Stationen in Straubing, Ingolstadt und zuletzt in der Schweiz ist er nun zurück als Sportdirektor und soll Augsburg mittelfristig aus dem Tabellenkeller in die Playoff-Regionen zurückführen – vorwärts in die Vergangenheit gewissermaßen. Mitchell sieht bei der Entwicklung der Liga Parallelen zur Nationalmannschaft. „Als ich angefangen habe, ging es manchmal nur darum, nicht zu hoch zu verlieren. Heute geht man selbstbewusst in jedes Spiel und versucht es zu gewinnen. Diese Einstellung tut auch der Liga gut.“ Umgekehrt wären die Erfolge der Nationalmannschaft – Silber bei Olympia 2018 und der WM 2023 – ohne eine starke Liga nicht denkbar gewesen.
Verbesserungsvorschläge gibt es immer, aber nicht alle sind umsetzbar. Solange es beispielsweise keine Gehaltsobergrenze wie in der NHL gibt, werden die Meister wohl auch in den nächsten zehn Jahren wie seit 2015 Mannheim, München oder Berlin heißen. Aber Überraschungen seien immer noch möglich, glaubt Alexander Oblinger. So wie 2014, als er mit Ingolstadt von Platz neun durch die gesamten Playoffs hindurch zum Titel stürmte. Oder wie 2010, als die Panther im Finale standen. „Wenn alles passt, kann auch ein Herausforderer einen Favoriten schlagen und durchmarschieren“, sagt Oblinger. In Augsburg hoffen sie vorerst, dass es nach den vergangenen beiden Jahren eigentlich nur bergauf gehen kann.