Debatte um Verletzung von Neymar:Alles nur Show

Debatte um Verletzung von Neymar: Marcelo beugt über seinem verletzten Kollegen Neymar. Der war im Viertelfinale gegen Kolumbien rüde gefoult worden.

Marcelo beugt über seinem verletzten Kollegen Neymar. Der war im Viertelfinale gegen Kolumbien rüde gefoult worden.

(Foto: AFP)

Brasilien sucht nach einem Schuldigen für das WM-Aus von Neymar. Die Fifa will für Aufklärung sorgen - doch das ist im Grunde lächerlich. Der Fußball-Weltverband sollte auf die Zirkusnummer verzichten und stattdessen für mehr Transparenz rund um die Schiedsrichter sorgen.

Ein Kommentar von Thomas Hummel, Rio de Janeiro

Die Aufregung ist riesig. Der Prinz Brasiliens liegt schreiend, weinend, geschlagen am Boden. Neymar está fora da Copa. O pesadelo. Neymar ist raus aus der WM. Der Alptraum. Keine Zeitung im Land kommt an diesem Samstagmorgen ohne den Bruch des Querfortsatzes des dritten Lendenwirbels aus. Das 2:1 im Viertelfinale gegen Kolumbien ist schon kaum mehr der Rede wert. Die Stimmung schwankt zwischen Trauer, Wut und Trotz.

Die Frage lautet: Wer ist schuld an dem Desaster? Der Kolumbianer Juan Zuñiga, der dem 22-Jährigen zwei Minuten vor Schluss wüst und unkontrolliert in den Rücken sprang? Der Schiedsrichter Carlos Velasco Carballo, der während der ganzen Partie den Spielern viel zu viel durchgehen ließ und Zuñigas Einsteigen überhaupt nicht ahndete? Oder gibt es eine geheime Anweisung des Fußball-Weltverbands, das Verteilen von Verwarnungen auf ein Minimum zu beschränken?

Wie immer nach einer strittigen Leistung des Unparteiischen zirkulieren allerlei Mutmaßungen in der Fußball-Welt. In dem Fall: Es ist schlecht fürs Geschäft, wenn die schillerndsten Gladiatoren wegen zweier gelber Karten oder Hinausstellungen statt auf dem Rasen in Zivilkleidung auf der Tribüne sitzen. Und von den Brasilianern waren sieben Spieler verwarnt ins Viertelfinale gegangen und hätten bei einer weiteren gelben Karte das Halbfinale gegen Deutschland verpasst. Am Ende erwischte es nur Kapitän Thiago Silva.

Der brasilianische Verband CBF startet den Versuch, die Sehnsucht im Volk nach Rache zu erfüllen, und kündigt an, die Möglichkeit einer juristischen Klage gegen Zuñiga zu prüfen. Der Weltverband Fifa will ebenfalls nicht tatenlos zusehen. Seine Disziplinarkommission analysiert die Szene. Sie soll untersuchen, ob es sich bei dem Vorfall um ein Foul oder ein Versehen gehandelt habe.

Beides ist der Show geschuldet und im Grunde lächerlich. Zuñiga Absicht zu unterstellen, ist Ansichtssache. Doch das spielt nach dem Regelwerk überhaupt keine Rolle. Sollte der CBF den Kolumbianer vor ein Gericht zerren oder die Fifa ihn im Nachhinein sanktionieren, wären das Präzedenzfälle, die den Fußball weitreichend verändern würden. Es liegt nahe, dass beide mächtigen Verbände eine solche Verschiebung überhaupt nicht wollen.

Spielraum für Spekulationen

Alleine die sogenannte Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters zählt. Der hat zunächst weiterspielen lassen, weil die Brasilianer mitten in einem Konterangriff waren. Und dann vergessen, dem Übeltäter die gelbe oder vielleicht auch rote Karte zu zeigen. Letzteres indessen zieht sich durch das Turnier und lässt Spielraum für Spekulationen.

Seit vielen Spielen bei dieser WM ist offensichtlich, dass die Schiedsrichter seltener gelbe Karten ziehen als etwa in der Bundesliga oder in der Champions League. Ein Zerren im Mittelfeld, ein taktisches Foul, selbst üble Grätschen ziehen zumeist nur mündliche Abmahnungen nach sich. Erst nach wiederholtem unsportlichem Verhalten gibt es Gelb. Zwischen Brasilien und Kolumbien gab es die Rekordzahl von 54 Fouls bei nur vier gelben Karten. Übrigens pfiff der Spanier Carballo dabei 31 Mal gegen Brasilien. Zumindest die Verschwörungstheorie, der Gastgeber sei benachteiligt worden, gibt die Statistik nicht her.

Würde die Fifa dem Problem seriös begegnen, verzichtete sie auf die Zirkusnummer mit der Disziplinaruntersuchung. Stattdessen würde die beginnen, mehr Transparenz rund um die Schiedsrichter zuzulassen. Wieso darf sich kein Unparteiischer bei der WM äußern? Wieso sind Anweisungen, die sich aus den Seminaren vor dem Turnier ergaben, nicht öffentlich? Die Forderung nach einem Pool Profi-Schiedsrichter wird lauter, bislang werden die Referees nach einem seltsamen Proporz-Verfahren aus allen Ecken der Welt eingeflogen. Wobei dem Spanier Caballo sicher niemand mangelnde Erfahrung auf höchstem Niveau unterstellen kann.

Dazu stellt sich wie immer die Frage, warum die Fifa nicht gewillt ist, ihren Unparteiischen die größtmögliche Hilfe zu gewähren. Ein Ober-, Video- oder Sonstwie-Schiedsrichter wäre kein Allheilmittel und knifflige Fragen wären zu klären. Doch der Zustand, dass da unten ein Mann mit seinen zwei Assistenten an der Seitenlinie für alles verantwortlich ist und bei einer WM im Zweifel ganze Nationen gegen sich aufbringt, ist nicht haltbar.

So gerät das Spiel zur Nebensache. Der vielleicht beste Spieler des Turniers beendete das Viertelfinale im Krankenhaus. Die Stimmung im Halbfinale dürfte aufgeheizter sein als ohnehin schon erwartet. Trauer, Wut und Trotz sind Emotionen, die zum Leben dazugehören. Doch ein Übermaß davon tut niemandem gut. Schon gar nicht einer Fußball-Weltmeisterschaft, die ohnehin ein grenzwertiges Maß an nationaler Erregung schafft.

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