Fehlt ein Schuss Verrücktheit? Coacht der Bundestrainer zu sehr mit dem Doktorhut? Nach der dritten großen Niederlage in seiner Karriere als Bundestrainer diskutiert Fußballdeutschland über die Zukunft von Joachim Löw. Die SZ nimmt die zentralen Vorwürfe der Experten auf und prüft sie auf ihren Gehalt. Aus Warschau von Christof Kneer und Philipp Selldorf Am Sonntag um 10.29 Uhr kam eine schockierende Mitteilung des Sport-Informations-Dienstes. Sie lautete: "Verband und Bundestrainer gehen getrennte Wege" - allerdings handelte es sich dabei um die Sportart Eishockey. Dennoch wird seit Donnerstagabend, 22.38 Uhr, das bis dahin Undenkbare auch im Fußball thematisiert. Dass Joachim Löw nach der Niederlage gegen Italien Fragen zu seinen Zukunftsplänen gestellt wurden, hat den Bundestrainer erheblich irritiert. Zwar ist sich das ganze Land einig, dass Löw seine erfolgreiche Arbeit fortsetzen soll, kein Kritiker geht so weit, dass er den Rücktritt des Bundestrainers fordert, trotzdem stellt das Land erstmals in sechs Jahren Amtszeit fundamentale Fragen. Im großen Chor der Kritiker bildete sich am Wochenende ein Kanon der wiederkehrenden Momente. Die SZ nimmt die zentralen Vorwürfe der Experten auf und prüft sie auf ihren Gehalt.
Bernard Dietz (Kapitän der Europameister-Mannschaft 1980): "Ich habe mich total geärgert, als ich die Startformation gesehen habe. Er hat sich am Gegner orientiert, völlig ohne Not." Dass Löws Taktik (das Tempo aus dem Viertelfinale heraus zu nehmen und durch statische Kontrolle zu ersetzen) nicht die richtige war, ist schon jetzt eine Wahrheit fürs DFB-Geschichtsbuch. Jeder hat ja die Auswirkungen verfolgen können: Die Dynamik des Viertelfinales war verschwunden, stattdessen regierte statische Ballkontrolle. In der Tat hat Löw keine Not für die zahlreichen Änderungen gesehen, er nimmt für sich in Anspruch, dass sein elitäres Trainerwissen und sein luxuriöser Kader es erlauben, für jeden Gegner, jedes Spiel, jedes Stadion und jede Wetterlage die passende Lösung zu wählen - die obendrein die ganze Welt überrascht, vor allem aber den gegnerischen Kollegen. Daraus hat er speziell in diesem Turnier einen persönlichen Sport entwickelt. Dieter Hoeneß (ehemaliger Bundesliga-Manager): "Jogi wollte zu viel. Ich hatte das Gefühl, er will eine Doktorarbeit abliefern." Löw wollte wohl tatsächlich mit dem Doktorhut auf dem Kopf durchs Halbfinale gehen. Natürlich war er immer schon ein akademischer Trainer, davon hat der deutsche Fußball viele Jahre extrem profitiert. Nach dem Systemabsturz der Jahrhundertwende hatte der konzeptionell verlotterte deutsche Fußball die Ideen aus Löw Taktikwerkstatt dringend nötig. Im EM-Halbfinale gegen die Italiener war sein Spielentwurf aber zu akademisch, zu viel Theorie und Reißbrett, zu wenig Praxis und Rasen. Manche raunen sogar, Löw habe außer dem Doktorhut gleich den Professorentitel im Sinn gehabt, indem er das Halbfinale gegen Italien als eine Art Generalprobe fürs geplante Finale gegen Spanien aufführen ließ. Ein starkes zentrales Mittelfeld, wie Löw es gegen Italien überraschend bevorzugte, wäre gegen Spanien ja eine naheliegende Lösung gewesen.
Oliver Kahn (ehemaliger Nationaltorwart): "Beim Stand von 0:1 geht's doch erst richtig los." Die Elf verlor nach Balotellis Tor zum 0:1 Struktur und Linie, Kopf und Glieder. Es fanden sich nicht genügend Spieler, die die Organisation des Spiels mit Sinn und Verstand, aber auch mit Temperament und Courage wiederherstellten. Sami Khedira allein reichte nicht, um der Mannschaft die Panik zu nehmen. Und was machte in dieser Phase eigentlich der Bundestrainer? Er ließ seine nach Hilfe suchende Elf weitersuchen. Joachim Löw (kurz vor Turnierbeginn): "Ich bin ein Wettkampftrainer." Joachim Löw ist vieles, aber ein Wettkampftrainer für die dramatischen Live-Momente ist er eher nicht. Er ist ein großer Stratege, aber seine Strategien entwirft er eher außerhalb des Stadions. Soforthilfe am Unfallort ist nicht seine Spezialität, da muss sich die Mannschaft mitunter alleine versorgen. Gegen Italien ist es ihm zumindest nicht gelungen, seine Spieler nach dem 0:1 zu beruhigen und von außen Einfluss zu nehmen. Er war plötzlich nicht mehr gegenwärtig, anders als gegen die Griechen oder gegen die Holländer, als er seine Elf mit Gesten und Gefühlen antrieb. Womöglich war Löw selbst zu erschrocken über den Spielstand und die Spielentwicklung. Löws passives Coaching schien umso überraschender, weil er während dieses Turniers durch sehr einleuchtendes Coaching aufgefallen war, sein Stil wirkte straff und pragmatisch. Das war ein großer Fortschritt. Das Coaching gegen Italien sah aber aus wie ein Rückfall in jene Zeiten, in denen er sich manchmal schwer tat, das Spiel seiner Mannschaft in der freien Wildbahn zu lenken. Vielleicht hat aber auch die Abwesenheit von akuten Notsituationen dazu geführt, dass die nötigen Reflexe zuletzt nicht ausreichend geschult wurden: Immerhin hat Löws Team mit dem Sieg gegen Griechenland - dem 15. Pflichtspielsieg hintereinander - einen Weltrekord aufgestellt. Das Schicksal hat Löw in diesen 15 Spielen keine der klassischen Prüfungen abverlangt - rote Karten, frühe Rückstände, gemeine Schiedsrichter, Not und Elend, das alles hat es seit dem 0:1 gegen Spanien in Südafrika nicht mehr gegeben. Löw musste fast zwangsläufig das Gefühl entwickeln, mit seinen Spielplänen immer die richtige Lösung zur Hand zu haben.
Hans-Joachim Watzke (Geschäftsführer Borussia Dortmund): "Jogi Löw soll weitermachen. Ich sehe aktuell auch keine Alternative." Hier vereinen sich Lob und Vorbehalt in zwei Sätzen. Wer soll es sonst machen?, fragt Watzke etwas hinterhältig. Die eigentliche Frage muss aber lauten: Warum soll es ein anderer machen? Ein vercoachtes Spiel - auch wenn es ein EM-Halbfinale ist - kann nicht sechs Jahre erstklassiger Arbeit auslöschen. Felix Magath (Trainer VfL Wolfsburg): "Wir wollen mit Jogi Löw in Brasilien Weltmeister werden." Wieder bleibt Löw nichts anderes übrig, als die Sehnsucht nach dem Titel auf die Zukunft zu vertagen. Er kann schon jetzt sicher sein, dass der Kader bei der WM 2014 nicht schlechter sein wird als der Luxuskader, den er zur EM 2012 mitgenommen hat. Allerdings hat Löw einstweilen ein wenig von seinem Glanz eingebüßt, er und seine Mannschaft werden die Bilder dieser Niederlage im Gepäck haben, wenn sie sich über die Stationen Astana, Dublin, Stockholm, Wien und Tórshavn auf den Weg zur WM nach Brasilien aufmachen. Auch in Brasilien wird sie die Debatte begleiten - je weiter sie dort kommen, um so mehr.
Italienische Nationalhymne: "Wir sind bereit zum Tod, Italien hat gerufen." Torwart Buffon hat die Hymne so laut mitgesungen, dass man sie auch noch in Rio de Janeiro noch hören konnte. Ob Spieler die Hymne singen, ist für das Spiel nicht wesentlich, aber Inbrunst und Lautstärke des italienischen Gesangs strahlten - ohne Rücksicht auf den Notenschlüssel - eine Entschlossenheit und einen Gemeinsinn aus, den man den Deutschen so nicht angesehen hat. Anders als bei der Heim-WM 2006 oder 2010 bei der Team-Neugründung ohne Michael Ballack ist Emotionalität keine tragende Säule des deutschen Spiels mehr. Gekonntes Handwerk und hohe Qualität haben das Team in den letzten beiden Jahren getragen; als es jetzt von Handwerk und Plan verlassen wurde, war es nicht imstande, sich über die banale Emotion ins Spiel zurück zu kämpfen. Hansi Flick (Bundes-Co-Trainer): "So einen Verrückten hätten wir auch haben können." Diesen Satz hat Flick vor dem Italien-Spiel in Erwartung von Mario Balotelli gesagt. Er spielte damit auf Kevin-Prince Boateng an, um den der DFB nicht kämpfte, als er sich für das Nationalteam Ghanas entschied. Das galt bisher als seriöse Entscheidung, obwohl Boateng inzwischen beim AC Mailand Karriere gemacht hat. Nachdem Balotelli die Deutschen jetzt mit einem Schuss Verrücktheit aus dem Turnier entfernt hat, fragen sich manche, ob diese deutsche Mannschaft zu brav ist, ob sie zu sehr unter Laborbedingungen gehegt und gepflegt wird, ob ihr die kontroversen Elemente fehlen. Tatsächlich hätte man sich Boateng im Spiel gegen Italien gut an der Seite von Khedira vorstellen können, sie wären als Duo nicht weniger explosiv gewesen als Bonnie & Clyde. Aber hätte Boateng artig auf einen Tag gewartet, an dem Bastian Schweinsteiger eine Pause bekommt? Eher nicht. Trotz der ernüchternden Niederlage gegen Italien bleibt es eine Tatsache, dass Löws Kader bis zu diesem Abend eine funktionierende Gemeinschaft war. Ein Verrückter fehlt eher nicht - was fehlt, ist einer wie Matthias Sammer, der beim Stand von 0:2 einen schrecklichen Wutanfall bekommt und sicherheitshalber schnell zwei Tore schießt. Lars Bender könnte so einer werden - aber den hatte Löw trotz dessen Siegtores gegen Dänemark nicht mehr auf dem Zettel.
Lothar Matthäus (DFB-Rekordnationalspieler): "Wer querdenkt, wird ja als Buhmann hingestellt." Ja okay, ein Lothar Matthäus in normaler Bestform fehlt schon auch. Jürgen Klinsmann (Joachim Löws Vorgänger): "Anfang der neunziger Jahre hat Johan Cruyff in Barcelona den spanischen Spielstil kreiert. Aber es hat bis 2008 gedauert, bis Spanien den ersten Titel gewann. Und jetzt räumen sie ab." Wenn das so ist, freut sich das Land jetzt schon auf die WM 2022 in Katar, die EM 2024 in China und die WM 2026 (wieder in Katar).