Süddeutsche Zeitung

Debatte um Aufstellung des DFB-Teams:Stammelf mit 16 Spielern

Joachim Löw zeigt, dass auch auch die Torschützen Gomez, Podolski und Bender keine Stammplatzgarantie haben. Der Bundestrainer stellt sein Team so auf, wie er es angesichts des Gegners für richtig hält. Beim EM-Turnier wird deutlich, dass Löw längst jenseits des netten Jogi angelangt ist.

Christof Kneer

Joachim Löw liebt Wenn-dann-Strategien. Nichts bereitet ihm mehr Freude, als alle möglichen und unmöglichen Szenarien vorzuempfinden und Gegenszenarien auszutüfteln. Man muss sich sein Leben bei einem Turnier als eine Aneinanderreihung von Trainersitzungen vorstellen, und jede dieser Sitzungen verlässt er etwas beruhigter. Er weiß dann, wie er reagieren würde, wenn ein eigener Spieler in der 27. Minute vom Platz gestellt wird oder wenn ein gegnerischer Spieler in der 74. Minute ein Führungstor schießt.

Auf das Szenario, das am Freitagabend über den deutschen Fußball hereinbrach, war allerdings niemand vorbereitet, für dieses Szenario lag bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe immer noch keine Wenn-dann-Strategie vor: Was, wenn mitten im Spiel der Bundestrainer abhandenkommt?

Es lief die erste Halbzeit im Viertelfinale gegen Griechenland, und Joachim Löw war dann mal weg.

Nein, die Zeit habe leider nicht gereicht, noch schnell einen Espresso zu trinken, sagte Löw später, als er sein Schmunzeln wiedergefunden hatte, über seine kleine Auszeit. Espresso ist seine große, alles überwölbende Wenn-dann-Strategie, Espresso trägt diesen Bundestrainer durch fast alle Lebenslagen. In dieser 25. Minute aber hatte selbst der Espresso seine Macht verloren, "ich habe am Aufschrei im Stadion gehört, dass wir offenbar schon wieder eine Torchance vergeben hatten", sagte Löw, "dann bin ich lieber wieder an den Spielfeldrand zurück."

Er befand sich irgendwo im Kabinengang in dieser Zeit, ein wütender Sprint hatte ihn dorthin getrieben, er konnte sich nicht wehren gegen diese Flucht. "Der Trainer hat sich sehr über die verpassten Chancen geärgert", sagte am nächsten Tag der Spieler Marco Reus, "ich weiß, ich hätte zwei, drei Aktionen konzentrierter abschließen müssen."

In so vorschriftsmäßigem Fußballfloskel-Deutsch vorgetragen, hörte sich das hübsch harmlos an. Aber am Abend vorher hätte nicht viel gefehlt, und Löws innere Wenn-dann-Strategie hätte ihm eine Verwüstung des Stadions empfohlen.

Dass Löw seine Art des Coachings weiterentwickelt hat, ist im Laufe dieses Turniers schon zu verfolgen gewesen, gegen die Niederlande etwa, als ihn die Kameras beim Aufführen wilder Dschungeltänze erwischten. Im Viertelfinale, beim 4:2 gegen Griechenland, hat sich zur äußeren Wildheit nun erstmals eine innere Wildheit gesellt. Löw hat zwar nicht das Stadion abgerissen, dafür hat er ganz schön in seiner Stammelf gewütet.

Ob es nicht ein Risiko gewesen sei, alle Vorrunden-Torschützen (Gomez, Podolski, Bender) und dazu noch Thomas Müller aus der Elf zu werfen und dafür Miroslav Klose, André Schürrle, Marco Reus sowie Rückkehrer Jérôme Boateng ins Team zu wuchten, wurde Löw von einem ausländischen Journalisten gefragt. Löw hat geantwortet, dass er kein Trainer sei, der sich nach dem Lehrsatz never change a winning team richte und dass er seine Elf immer so aufstelle, wie er es angesichts des nächsten Gegners für passend halte.

Das klang so cool, wie Löw meistens klingt, wenn er das Spiel eine Stunde hinter sich gelassen und schon einen Espresso intus hat. Wer aber Löws Übersprungshandlungen am Rasenrand verfolgt hatte, der wusste, dass dieses Viertelfinale für diesen Trainer nichts weniger war als ein riesengroßes Risiko.

In der Geschichte des Bundestrainers Löw dürfte dieses Viertelfinale mal ein eigenes Kapitel bekommen, es war das Spiel, in dem Löw erstmals ein vorläufiges Gesamtbild seines neuen Coaching-Stils vorlegte. Das aggressive, für die Außenwelt sichtbare Gebaren an der Seitenlinie hat er mit einem neuen scharfen Tonfall unterlegt, der auf die Innenwelt zielt. Er hat Stammplätze in Frage gestellt und Hierarchien angetastet, er hat den Kader kräftig durchgelüftet. Es habe ihm "schon auch weh getan", Gomez, Podolski und Müller die Hiobspost zu überbringen, sagt Löw, aber er hat gelernt, auf eine nüchterne Art stur zu sein. Der Sportlehrer Löw hat das so entschieden, also muss der Mensch Löw da jetzt durch.

Joachim Löw kann das gut trennen inzwischen, er ist längst jenseits des netten Jogi angelangt. Früher hat er ja nur Nationalspieler verwunden müssen, die er im stillen Trainerkämmerlein schon als Ex-Nationalspieler begriff, Kuranyi, Ballack oder Frings. Jetzt aber musste er den Vorrundenretter Gomez kränken, den guten, alten Poldi und den WM-Helden Thomas Müller, und anders als bei Kuranyi, Ballack oder Frings, ist er auch künftig auf die Loyalität dieser Spieler angewiesen. Er hat noch viel mit ihnen vor, er braucht sie noch, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar bei diesem Turnier. Noch in der Pressekonferenz nach dem Spiel hat Löw angefangen, die drei zu loben, sie haben mindestens so viele warme Worte abbekommen wie die ins Team rotierten Klose, Reus und Schürrle.

Es ist Löws Weg, mit dem neuen Reichtum in seinem Kader umzugehen. Er hat inzwischen so viele exquisite Spieler, dass er beschlossen hat, eine Stamm-Elf aus 15, 16 Spielern bestehen zu lassen. Er nutzt dazu das bewährte Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip, er führt Einzelgespräche mit den Etablierten, bevor er sie streicht, und die neuen Helden warnt er vor Übermut, indem er die Aufstellung ausdrücklich als Tagesmaßnahme kennzeichnet. "Heute war der Tag der Veränderung", sagte er nach dem 4:2, "die Zeit war reif, etwas Neues zu probieren, ich wollte unberechenbar sein für die Griechen." Mit Betonung auf "Griechen" - im Subtext heißt das, dass im Halbfinale ein anderer Gegner kommen wird und dass dieser andere Gegner womöglich eine andere deutsche Aufstellung braucht.

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass Löw mit dem erweiterten Spieler-Repertoire auch sein Coaching-Repertoire erweitert hat. Er wird in den nächsten Tagen genüsslich das Training beobachten, er wird genüsslich seine Sitzungen abhalten und er wird genüsslich analysieren, ob er im Halbfinale wieder einen geschmeidigen "Querläufer" (O-Ton Löw) wie Reus braucht (durchaus möglich), einen willigen Flügelrenner wie Schürrle (eher unwahrscheinlich) und einen Mittelstürmer wie Klose, dessen hoch sozialer Kombinationsfußball dafür sorgt, dass auch andere im Team Tore schießen. Dass Klose für Gomez im Team bleibt, darf zurzeit als wahrscheinlich gelten.

Wir vertrauen dem Trainer fast schon blind. Alles, was er macht, hat Hand und Fuß", sagt Sami Khedira, aber er hat natürlich auch gut reden. Er muss die neue Unberechenbarkeit seines Vorgesetzten am wenigsten fürchten.

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SZ vom 25.06.2012/mane
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