Wer die alten Bilder von Michael Stich beim Davis-Cup-Sieg 1993 mit dem heutigen Cup vergleicht, wird feststellen, dass die Trophäe gewachsen ist. Sie ist noch wuchtiger geworden, denn der Sockel, auf dem sie steht wie auf einer Kuchen-Etagere, wurde aufgestockt. In den vergangenen 31 Jahren haben eine Reihe von Siegernationen Anspruch darauf erhoben, auf einem zusätzlichen Ring mit Silberplatten verewigt zu werden. Und auch wenn Kritiker beanstanden, dass die Bedeutung des Davis Cups disproportional zum Gewicht des 100-Kilo-Kolosses ein wenig abgenommen hat, hauen Niederlagen die Tennisprofis noch genauso um wie früher.
„Es tut weh. Kein Mensch wird jemals über die Verlierer reden“, sagte Daniel Altmaier, 26, am Freitagabend in Malaga mit finsterem Blick: „Man will den Platz als Gewinner verlassen.“
Aus für deutsches Davis-Cup-Team:Knapp vorbei am großen Wurf
Am Ende entscheiden Kleinigkeiten: Das deutsche Davis-Cup-Team scheitert im Halbfinale an den Niederlanden, die Enttäuschung ist groß.
Dazu hat nicht viel gefehlt. Kaum einer im nahezu ausverkauften Palacio de Desportes Jose Maria Martina Carpena würde bestreiten, dass die deutsche Tennisnationalmannschaft so nahe am Finaleinzug war wie lange nicht mehr nach dem letzten Davis-Cup-Triumph des Teams um Michael Stich, der heute immerhin auch schon 56 Jahre alt ist. Denn die Auslosung war günstig. Der Turniermodus war vorteilhaft. Und der Halbfinalgegner Niederlande hat ebenso wenig wie die Auswahl des Deutschen Tennis Bundes (DTB) einen Grand-Slam-Sieger oder Superhelden aus dem Marvel-Universum in seiner Riege. Trotzdem musste sich das Ensemble von Teamchef Michael Kohlmann in zwei äußerst knappe Dreisatzniederlagen fügen. „Wir haben keinen Tiebreak verloren, wir haben in den engsten Momenten einen kühlen Kopf bewahrt, und wir sind trotzdem ausgeschieden“, stellte Kohlmann konsterniert fest: „Eigentlich unglaublich.“
Wie ein Entfesselungskünstler wehrt Altmaier neun Matchbälle ab
Es waren Nuancen, die den Ausschlag gaben, zunächst im Falle Altmaiers, der sich Botic van de Zandschulp (4:6, 7:6, 3:6) geschlagen geben musste. Dieser 29 Jahre alte Niederländer, Nummer 80 der Welt, hatte am Dienstag im Viertelfinale Schicksalsgott spielen dürfen und dem großen Rafael Nadal mit dem Tennisschläger den Weg in die Rente auf Mallorca gewiesen. Altmaier erwies sich in seinem erst vierten Nationalmannschaftseinsatz allerdings als ein nicht minder widerspenstiger Gegner: Er hatte zehn Matchbälle gegen sich und zog sich wie ein Entfesselungskünstler aus der Affäre. Fünf wehrte er im Tiebreak des zweiten Satzes ab (12:14), vier weitere im dritten Satz. Der letzte Matchball war für diesen „Houdini“, wie ihn Kohlmann nannte, dann aber doch ein Fallstrick zu viel.
Jan-Lennard Struff, 34, in Abwesenheit von Alexander Zverev seit Jahren die Nummer eins im deutschen Team, verlor anschließend ebenso unglücklich 7:6 (4), 5:7, 4:6 gegen Tallon Griekspoor, der an diesem Tag 25 Asse zwischen die Linien knüppelte. Auch Zverev hatte im Juni bei den French Open in fünf Sätzen seine liebe Not mit Griekspoors Aufschlaggewitter. „Am Ende haben uns leider gegen die Niederlande wenige Punkte für den Finaleinzug gefehlt. Diese Mannschaft hätte es verdient gehabt“, sagte der deutsche Tennispräsident Dietloff von Arnim.
Für Kohlmanns Kollektiv bedeutete der uneinholbare 0:2-Rückstand, dass das Weltklassedoppel Kevin Krawietz/Tim Pütz nicht mehr auf den Platz beordert wurde. Weil auch das Viertelfinale gegen Kanada am Mittwoch nach den beiden Einzeln 2:0 entschieden gewesen war, reisten die erst vergangenen Sonntag gekürten ATP-Champions – als Agenten für spezielle Aufgaben in Andalusien verspätet eingeflogen – untätig wieder ab. Der Einsatz der Joker im Spiel war also gar nicht möglich, ein weiterer Hinweis auf ein paar grundlegende Fehler im Wettkampfsystem. Das Finale haben am Sonntagabend die Titelverteidiger aus Italien gewonnen: Der Weltranglistenerste Jannik Sinner und Matteo Berrettini schlugen in ihren Einzeln die Niederlande 2:0.
Außer Frage steht, dass Kohlmann seit Jahren Hervorragendes im Davis Cup leistet, in diesem Traditionswettbewerb, der 2018 fast bis zur Dekonstruktion reformiert wurde. Auch deshalb war die Enttäuschung über die verpasste Finalteilnahme so groß. Einen sehr breiten Kader hat der Teamchef zuletzt an die Aufgaben herangeführt. Persönliche Umstände und auch der Turniermodus mit einer langen Zwischenrunde machten das erforderlich. Das Jahr habe gezeigt, „dass wir eine Menge Spieler brauchen, um das Finalturnier zu erreichen“, sagte Kohlmann in Malaga. Yannik Hanfmann, in Spanien nominiert, gehört ebenso zu seiner „unglaublichen Gruppe“ wie Maximilian Marterer, Henri Squire und Dominik Koepfer in der Vor- und Zwischenrunde.
Die ungeliebte Zwischenrunde im September weicht einem Heim - oder Auswärtsduell
Diese Vielfalt ist auch eine Möglichkeit, um das Nichtmitwirken von Zverev, Deutschlands bestem Tennisspieler, zu kompensieren. In diesem Jahr war der Weltranglistenzweite durchweg unabkömmlich: Bei der ersten Runde im Februar, unmittelbar nach den Australian Open, fehlte er erkrankt. Im September ließ er die China-Expedition aus, die ungünstig zwischen den US Open in New York und dem Laver Cup in Berlin angesetzt war. Als im November das Finalturnier in Malaga begann, war Zverev, zuletzt gesundheitlich angeschlagen, bereits auf dem Weg in den Urlaub.
Mit diesem Format der Finalrunde, die 2018 zu den Neuerungen gehörte und bereits wieder reformiert wurde, haben sich Spieler und Teamchef angefreundet. Allerdings stehen im kommenden Jahr schon wieder Änderungen bevor. Als der Weltverband ITF 2018 eine auf drei Milliarden Dollar und auf 25 Jahre angelegte Partnerschaft mit der Investmentgruppe Kosmos einging, wurde das System der Heim- und Auswärtsspiele im Davis Cup abgeschafft – als mageres Relikt blieb nur die erste Runde. Fünf Jahre später zerbrach die kommerzielle Allianz, die ITF beendete den Vertrag. Der Fall liegt nun beim Internationalen Sportgerichtshof Cas. Zu den Umständen hat sich die ITF auch am Wochenende auf Nachfrage „aus vertraglichen Vertraulichkeitsverpflichtungen“ nicht geäußert.
Fest steht aber, dass die ungeliebte Zwischenrunde im Herbst nun wieder fällt. Dafür wird es zweitägige Nationenduelle im beliebten Heim- oder Auswärtsmodus geben. Wieder vor eigenem Publikum zu spielen, wenn das Team einen neuen Anlauf nimmt, das sei „mit Sicherheit eine positive Änderung“, sagte Kohlmann. Es wären dann übrigens 32 Jahre, seit eine deutsche Tennismannschaft den 100-Kilo-Koloss zuletzt erobert hat.