Kokain-Affäre vor 20 Jahren:Theater um "den verschnupften Daum"

FUSSBALL: 1. BUNDESLIGA 00/01 Hamburg, 09.10.00; Uli Hoeneß und Christoph Daum

Duellierten sich: Daum und Hoeneß

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Mit einem Interview bringt Uli Hoeneß vor 20 Jahren die Christoph-Daum-Affäre ins Rollen. Eine ernste Sache als absurdes Theater: mit Kokaintest, Razzia und Flucht nach Florida.

Von Philipp Selldorf

Draußen in der Fußgängerzone spielt der Mann an der Drehorgel diese unheimlichen Melodien, die einen immer schauern lassen, weil in ihnen die Andeutung von gefährlichem Irrsinn schlummert. Drinnen im Café "Riese" sinniert der Professor beim Cappuccino über seine größten Kriminalfälle.

Klar, die Geschichte, die die stärkste öffentliche Wirkung hatte, das war die Sache mit den Haaren von Christoph Daum, aber andere Fälle während fast 40 Jahren Praxis in der Rechtsmedizin haben Herbert Käferstein mehr bewegt: Solche, "in denen Menschen umgebracht wurden, mit Gift ermordet", wie er an diesem Tag, der inzwischen einige Jahre her ist, angemessen ehrfurchtsvoll erinnert.

Die feindlichen Clans in München und Leverkusen sind damals im Herbst 2000 nicht so weit gegangen, sich öffentlich Mord und Totschlag anzudrohen, aber wenn sie Raketen zu Hand gehabt hätten, um aufeinander zu schießen wie zwei Kriegsparteien, dann hätten sie es vermutlich getan. Die Motive waren hinreichend gegeben: Der Bayer-Leverkusen-Häuptling Reiner Calmund attestierte dem Bayern-München-Häuptling Uli Hoeneß "absolute Bösartigkeit"; Hoeneß wiederum unterstellte Calmund und Komplizen "absoluten Vernichtungswillen". Beide Seiten wähnten sich in Notwehrzuständen.

Bis der Tag kam, an dem Professor Käferstein sein Gutachten vorlegte, und jener Mann, um den die seinerzeit führenden Fußballmanager und -klubs gestritten hatten, eine neue Front eröffnete: Jemand habe "ein Ding gedreht", rief Christoph Daum, als er im Wohnzimmer seines Assistenten Roland Koch erfuhr, dass ihn der Drogentest enttarnt hatte. Dabei hatte er selbst geglaubt, ein Ding gedreht zu haben. Daum war überzeugt, er hätte alle überlistet, indem er das Labor des unbestechlichen Professor Käferstein einschaltete, und nun war er völlig verblüfft darüber, dass die Wahrheit rausgekommen war und er restlos blamiert als derjenige dastand, der er tatsächlich war: als ein Mann, der Drogen nimmt. Er hatte gelogen und betrogen, aber er betrachtete sich als Opfer einer Intrige. Dann flog er erster Klasse ins Exil nach Florida.

Die Erregung und Erschütterung jener Tage

Worum ging es in jenen Tagen vor 20 Jahren, in denen der deutsche Fußball bebte? Am Ende beschränkte sich die kriminelle Substanz der Affäre auf Christoph Daums strafrechtlich irrelevanten Kokainkonsum. In der damaligen Sicht aber erblickte das Publikum monströse Machenschaften und eine Verschwörung gegen den designierten Bundestrainer. Oder, wie Paul Breitner meinte, den größten Bundesligaskandal seit dem Bestechungskomplott Anfang der Siebzigerjahre.

Daum selbst sorgte dafür, dass er als Verlierer aus der Sache rausging. "Wenn Daum nicht so bescheuert gewesen wäre, die Haarprobe machen zu lassen", so hat Uli Hoeneß Jahre später noch mal festgestellt (wissend, dass ihm für seine ungeschminkten Worte keine Beleidigungsklage droht), dann wäre der Lauf der deutschen Fußballgeschichte seit Oktober 2000 garantiert ein ganz anderer gewesen: dann hätte statt des Teamchefs Rudi Völler der Bundestrainer Daum die Nationalelf betreut, und für den geächteten Hoeneß wäre womöglich kein Platz mehr gewesen in der Fußballfamilie.

Er habe "zum ersten Mal erlebt, wie es ist, wenn du ein ganzes Volk gegen dich hast", erinnerte sich der Münchner Präsident einmal, und gleich war sie wieder da: die Erregung und Erschütterung jener Tage, in denen Hoeneß glaubte, Daum sei "wissentlich bereit gewesen, mich und meine Familie zu zerstören".

Warum viele Deutsche Uli Hoeneß für skrupellos hielten

Typisch für die theatralischste Affäre der Bundesligageschichte (seltsamerweise noch an keiner Bühne aufgeführt) ist aber auch, dass es keine drei Monate dauerte, bis alle Beteiligten wieder in ihre alten Gewohnheiten und Rollen fanden: Daum kehrte Mitte Januar 2001 mit heiterem Trara aus Florida zurück und bekannte auf einer närrischen Presseveranstaltung alles andere als demütig, "in einem gewissen privaten Bereich vereinzelt Schwächen gezeigt" und - zugegeben - "gelegentlich" Kokain genommen zu haben. Die Abgabe der Haarprobe - der Schlüssel zu seiner Überführung - sei ein Fehler gewesen, teilte er fröhlich lachend mit, "da habe ich mit Zitronen gehandelt".

Der Mann, der nach seiner Ausreise in die USA am 21. Oktober 2000 landauf, landab als krank und drogensüchtig disqualifiziert worden war, dessen Dasein Franz Beckenbauer als "menschliche Tragödie" klassifizierte, und um dessen Leben Reiner Calmund gebangt hatte, weil er einen Suizidversuch fürchtete, gab keinen Anlass zur Besorgnis mehr.

Und während Calmund wieder das hoffnungsvollste Fußballteam managte, das Bayer jemals hatte, fand auch Uli Hoeneß schnell zu altem Selbstvertrauen zurück. Zum Start des neuen Jahres verkündete er im Trainingslager in Marbella: "Wir sind der beste Fußballverein der Welt." Jeden Gegner in der Liga könne der FC Bayern nach Belieben "zermalmen", präzisierte er, denn er hatte gerade ausgezeichnet zu Abend gegessen. Was Borussia Dortmund an der Börse veranstaltet habe, "das war alles Pipifax", setzte er fort: "Wenn Dortmund dort 300 Millionen bekommen hat, dann kriegen wir eine Milliarde. Aber das will ich gar nicht. Mit der großen Keule, das wäre ja einfach."

"Es gibt immer wieder Gemeinheiten zwischen den Menschen"

Professor Käferstein hat also gute Gründe dafür, wenn er sich bedeutenderer Untersuchungen entsinnt als der Analyse an Daums Haaren. Obwohl ihn der Auftrag, im ganzen Land mit einer solchen Wucht bekanntmachte, dass ihn sein eigener Sohn verleugnete, als er neugierigen Reportern versicherte, er kenne diesen Herbert Käferstein gar nicht. "Es gibt immer wieder Gemeinheiten zwischen den Menschen", resümiert der 68 Jahre alte Toxikologe im Kölner Café Riese die Erkenntnisse seines Schaffens, und irgendwie findet er mit diesem Satz die Brücke von Pseudokriminalfall Daum zu den wirklichen Verbrechen, denen er begegnet ist. Zum Beispiel beim Fall der Altenpflegerin, die ihre Pfleglinge der Reihe nach vergiftete, um sie auszurauben. Alle Opfer bekamen einen gültigen Totenschein, kein Arzt dachte an etwas Böses, es waren ja alte Leute. Bis jemand das Attentat überlebte und die Polizei hinzugezogen wurde. Die Kripo fand schnell heraus, dass die Altenpflegerin vorbestraft war, Exhumierungen und Nachforschungen ergaben, dass sich die Frau von der Diebin zur Massenmörderin gewandelt hatte. "Hohe kriminelle Energie", konstatiert Käferstein nüchtern.

Viele Deutsche hielten Uli Hoeneß für mindestens genauso skrupellos, als die Münchner Abendzeitung am 2. Oktober 2000 jenes geflügelte Wort veröffentlichte, das Daum und seine Verbündeten sofort zur übelsten Verleumdung der Weltgeschichte erhoben: Wenn "unwidersprochen vom verschnupften Daum" geredet und geschrieben werden, dann dürfe dieser nicht Bundestrainer werden, sagte Hoeneß in Anspielung auf die Gerüchte, die Daum seit Jahren begleiteten. Der hinterhältige Satz erschütterte das deutsche Fußballleben. Während die heimische Fußballszene in Aufruhr geriet, reiste Hoeneß nach Marbella, um das nächste Trainingslager für die Bayern zu erkunden; fürs Krisenmanagement hatte er keine Zeit, weil er ja auch den angeschlossenen Golfplatz prüfen musste. Bayer Leverkusen organisierte prominente Rechtshilfe, Daum stellte Strafanzeige, ganz Deutschland diskutierte.

Es ging ja nicht nur um die alten Kokaingerüchte, die immer wieder ein Thema waren, weil Daum diese krassen Stimmungsschwankungen hatte und diesen merkwürdigen flackernden Blick, den die taz einst als "die toten Augen von Leverkusen" würdigte. Nun aber schrieben die Zeitungen auch über seine verkorksten Immobiliengeschäfte auf Mallorca, über seinen Quasi-Schwager, der im Gefängnis saß, über angebliche Orgien in Kölner Saunaclubs. Dann gab es da noch diese seltsamen Äußerungen, die der Trainer neulich selbst gemacht hatte: Leute aus dem Knast und dem Milieu stellten ihm nach, sogar "aus dem Jenseits" fühlte er sich bedrängt. Das Volk staunte: Die Verhältnisse im deutschen Fußball waren auf einmal mindestens so verrucht und finster wie im amerikanischen Kolportagethriller.

Dann erschien in der SZ ein Kommentar, in dem der Autor Ludger Schulze anregte, Daum könne ja durch eine Haarprobe seine Unschuld beweisen. Ein Reporter berichtete dem Leverkusener Trainer in dessen Kabine von dem Vorschlag - und Daum kontaktierte gleich seinen Anwalt. Bis es aber tatsächlich zur Prozedur kam, wurde noch viel diskutiert im Land. Bei Bayer 04 gab es heftigen Widerstand, Funktionäre des Vereins sahen - nicht ohne Grund - rechtsstaatliche Prinzipien verletzt. Auch die Bundesjustizministerin schloss sich dem Protest an.

Während sein Chauffeur am Tisch um die Ecke einen Teller Spaghetti Pesto empfängt und er selbst mit Aussicht auf den Kölner Dom eine Portion Blaubeerpfannkuchen genießt, erinnert sich Reiner Calmund vor ein paar Jahren im Gespräch ganz genau, als er damals zum Fußballchef Kurt Vossen gesagt hat, als dieser meinte, das Haarprobeverfahren sei ungerecht und gefährde die Demokratie: "Kurt, do mer ne Jefalle" - eine klassische kölsche Belehrungsverwendung - "das is' mir scheißejal".

Der Bayer-Manager, inzwischen ebenso emeritiert wie sein Kollege Hoeneß und der Rechtsmediziner Käferstein, hielt den Drogentest für das "Mittel zum Befreiungsschlag". Er hatte viel riskiert in der Sache, den harten Streit mit seinem alten Freund Hoeneß angezettelt, öffentlich Franz Beckenbauers Ehre infrage gestellt - nun glaubte er seine Garantie für den Sieg in diesem vermeintlich existentiellen Kampf zu erhalten. Calmund kannte Daum seit vielen Jahren, in seiner Biographie hat er geschrieben, dass in gemeinsam verbrachten Tagen und Nächten "Dinge geschahen, die man als durchschnittlicher Familienvater besser verschweigt". Aber er schwört bis heute "beim Leben meiner Kinder und Enkelkinder, nie mit Haschisch oder Kokain zu tun gehabt zu haben".

"Ich tue dies, weil ich ein absolut reines Gewissen habe"

Am 9. Oktober 2000 trat Daum vor die Presse und verkündete, er habe sich im Beisein eines Notars eine Haarprobe entnehmen lassen, die vom gerichtsmedizinischen Institut in Köln untersucht werde. "Ich tue dies, weil ich ein absolut reines Gewissen habe", sagte er, und nicht nur Professor Käferstein, der Empfänger der Probe, musste sofort an Uwe Barschel denken, als er den Satz hörte. Barschels Ehrenworterklärung in Kiel und Daums Gewissensgarantie in Leverkusen sind in der deutschen Historie zumindest um Ecken miteinander verwandt.

Calmund selbst brachte die Probe nach Köln, als Zeugin kam eine Mitarbeiterin des Notars mit. Sie fuhren in zwei Autos, das hat Calmund später vorübergehend den - unberechtigten - Verdacht eingetragen, er habe auf dem Weg über den Rhein die tatsächliche Probe mit einer anderen Probe vertauscht. Als sie beim Institut ankamen, gas es eine Enttäuschung. Der Professor war zu einer Vorlesung aufgebrochen, sie mussten warten. Man bot Calmund Kaffee und Plätzchen an, aber die Überraschung war: Er wollte nichts essen. Ihm war nicht wohl. Wegen der Leichen, die er in seiner Nähe wähnte.

Drei Männer erhielten von Daum die Befugnis, den Befund der Probe entgegenzunehmen: Beckenbauer, der mutmaßlich nächste DFB-Chef Gerhard Mayer-Vorfelder und Calmund. An jenem Tag, an dem er schließlich das Papier in Köln abholte, musste Calmund auf eine Beerdigung, er hatte aber nicht nur deswegen ein ungutes Gefühl. Irgendwie ahnte er etwas Böses. Als mittags der Professor bei seiner Sekretärin anrief und mitteilte, die Analyse sei fertig, war er plötzlich wieder zuversichtlich: Er lud den Pressechef Uli Dost ins Auto und beauftragte ihn schon mal, eine Erfolgsmeldung zu entwerfen.

Doch nachdem sie im Besprechungszimmer des Instituts das Ergebnis des Gutachtens studiert hatten, wollte Dost den Rückweg nach Leverkusen gar nicht mehr antreten. Er zitterte am ganzen Leib, im Schock steckte er sich zwei seiner Zigarillos auf einmal in den Mund. Über den in doppelter und dreifacher Prüfung ermittelten Wert macht Käferstein zwar bis jetzt keine Angaben ("Schweigepflicht"), aber genügend andere haben das Resultat an seiner Stelle in die Öffentlichkeit getragen. Hoeneß erzählte, wie Calmund ihn anrief und sagte: "Stell Dir mal vor: Der Verrückte hat einen Wert - so was haben die überhaupt noch nicht gemessen..."

Daum nahm Reißaus. Er flog nach Amerika. Journalisten reisten ihm hinterher, ein sinistrer Mittelsmann bot gegen Zahlung von 100 000 Dollar ein Interview mit dem Flüchtling an. Selbst nach dem dramaturgischen Höhepunkt blieb der Krimi spannend. Während sich der ehemalige Bundestrainer, der niemals hatte Bundestrainer werden dürfen, an wechselnden Orten versteckt hielt, trat in Köln die Staatsanwaltschaft in Aktion. Sie ließ Daums Haus im Stadtteil Hahnwald durchsuchen und entdeckte Käfersteins Gutachten, das der Trainer bei der überstürzten Abreise hatte liegen lassen. Nicht zuletzt auf diesem Beweisstück beruhte der Prozess, der Daum ein Jahr später vor dem Landgericht Koblenz gemacht wurde - ein aufgeblasenes Verfahren, das der Richter gegen Zahlung von 10 000 Euro Geldbuße einstellte. Juristisch war der Fall viel kleiner, als er aussah.

Auch das das war nur ein Trick, der nicht aufging

Auch die Bayer-Geschäftsstelle war noch mal Schauplatz einer Razzia. Aber Calmund hatte längst andere Sorgen. Er brauchte einen neuen Trainer, musste mit dem DFB über die Verwendung von Rudi Völler verhandeln, vor allem aber musste er sich mit Uli Hoeneß arrangieren, und "völlig überraschend", so entsinnt er sich, "hat dann Rudi Assauer als Friedensengel vermittelt". Lange vor Weihnachten schon nannte Hoeneß seinen rheinischen Kollegen wieder "Calli" und lud ihn zum Abendessen bei "Käfer" ein.

Daum trug noch einige Rückzugsgefechte aus, plötzlich präsentierte er in Florida eine Gegenanalyse, die ihn angeblich entlastete. Aber auch das war nur ein Trick, der nicht aufging. Nach seiner Heimkehr gab er sich geläutert, aber das Schauspielern konnte er nicht lassen. Kokain habe er nur deshalb genommen, um die "Schmerzindikation" einer Hüftarthrose zu lindern, sagte er. Das Protokoll notierte: diskretes Gelächter im Saal.

Dieser Text ist - in leicht veränderter Form - erschienen im Buch "15:30 - Die Bundesliga. Das Buch" aus der Süddeutschen Zeitung Edition.

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