Süddeutsche Zeitung

Datenprojekt zur Vergabe von Sportgroßereignissen:Wie Mächtige den Sport missbrauchen

Katar darf acht Weltmeisterschaften ausrichten, Russlands Präsident Putin missbraucht Spiele als Machtinstrument: Ein SZ-Projekt zeigt, wie sich der Sport verändert - und wie die Funktionäre mitspielen.

Von Lisa Sonnabend (Daten und Text), Thomas Block und Salvan Joachim (Grafiken)

Was mit Geld alles möglich ist, demonstrierte Katar der Welt eindrucksvoll bei der Handball-WM im Januar. Die Nationalmannschaft, für die Spieler aus aller Welt gekauft wurden, stürmte bis ins Finale. Die neu errichteten Arenen glänzten. Solche Bilder werden in Katar künftig häufiger zu sehen sein. Denn in drei Monaten trägt der Wüstenstaat die WM im Amateurboxen aus, 2016 folgt die Straßen-WM im Radfahren, 2018 messen sich dort die besten Turner. 2019 soll bei der Leichtathletik-WM in Katar ein neuer Weltrekord im 100-Meter-Lauf fallen. Der Höhepunkt steht 2022 an: die Fifa-WM in einem Land ohne Fußballtradition. Das Sportgeschäft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert - wie sehr, hat SZ.de in einem Datenprojekt analysiert.

Freie, teilweise freie und unfreie Länder

Wie hat sich die Sportwelt verändert? SZ.de hat in einem Datenprojekt untersucht, in welche Länder die Verbände die Weltmeisterschaften und Olympischen Spiele seit 1970 vergeben. Berücksichtigt wurden 1360 Veranstaltungen in allen olympischen Sportarten. Um zu erkennen, ob es tatsächlich einen Trend zu umstrittenen Gastgebern gibt, wurde der Index "Freedom in the World" der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House herangezogen. Dieser misst den Grad an Demokratie und Freiheit in den Staaten und unterteilt diese in drei Kategorien: frei, teilweise frei und unfrei. Reisen Sportler zu einem Wettkampf in einem unfreien Land, können sie davon ausgehen, dass Menschenrechte und Meinungsfreiheit dort nicht geachtet werden.

  • Spiele gehen immer häufiger an umstrittene Gastgeber

Die Entscheidung wird dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) im Juli nicht leicht fallen. Für die Olympischen Winterspiele 2022 gibt es nur zwei Bewerber: China geht mit Peking ins Rennen, Kasachstan versucht es mit Almaty. Wem sollen die IOC-Mitglieder ihre Stimme geben? Meinungs- und Pressefreiheit werden in beiden Länder nicht geachtet, Homosexuelle werden diskriminiert, politische Gegner unterdrückt. Der Index "Freedom in the World" führt sie als unfreie, also undemokratische Staaten.

Doch auch wenn das IOC und andere Weltsportverbände bei Vergaben von Sportereignissen die Wahl zwischen Diktatur und Demokratie haben, entscheiden sie sich immer häufiger für den umstrittenen Gastgeber. Fast 25 Prozent aller großen Sportereignisse zwischen 2010 und 2019 finden nicht in Demokratien statt. Im Jahrzehnt zuvor wurden lediglich 15 Prozent der großen Events an autoritäre Staaten vergeben, in den neunziger Jahren nur elf Prozent.

  • Politisch motivierte Siebzigerjahre

Die Daten zeigen auch: Schon in den siebziger Jahren mussten Sportler sehr oft in undemokratische Länder reisen. Jugoslawien und die Sowjetunion bekamen häufig den Zuschlag. Auch das Franco-Spanien und das Militärjunta-Argentinien durften sich der Welt mehrmals als Gastgeber präsentieren, die DDR trug 1973 die Rodel-WM und ein Jahr später die Handball-WM der Männer aus und Nordkorea veranstaltete 1979 die Tischtennis-WM. 28 Prozent der Sportereignisse in den siebziger Jahren wurden in unfreien oder teilweise freien Staaten abgehalten - mehr als in diesem Jahrzehnt.

Die Vorliebe für fragwürdige Gastgeber war in Zeiten des Ost-West-Konflikts dabei vor allem politisch bedingt. Im IOC und den anderen Weltverbänden saßen viele Sportfunktionäre aus den Ostblockstaaten - und stimmten häufig für ihre Heimat oder befreundete Länder. Nach dem Zusammenbruch von Sowjetunion und Jugoslawien waren die Nachfolgestaaten jahrelang nicht in der Lage, Großereignisse auszurichten. Auch die Machtgefüge in den Weltverbänden verschoben sich.

Obwohl die Funktionäre die Wahl hätten, votierten sie weiterhin für umstrittene Länder - und taten dies in den vergangenen Jahren wieder häufiger. Statt politischer Beziehungen spielen nun vor allem kommerzielle Interessen eine Rolle. Die Folge: Viele Weltmeisterschaften finden nun in China, Russland oder Katar statt. Denn dort gibt es zwar keine Meinungsfreiheit, aber dafür jede Menge Geld.

  • Umstrittener Höhepunkt im Jahr 2014

Besonders eklatant war die Situation 2014 - nie kamen so viele umstrittene Gastgeber zum Zuge wie in jenem Jahr. Russland richtete nicht nur die Olympischen Winterspiele in Sotschi sondern auch die Weltmeisterschaften im Kanu, Judo und Fechten aus. In China versammelten sich die besten Curler und Turner der Welt - und auch Kasachstan, Usbekistan, Weißrussland und Katar wurden mit großen Sportveranstaltungen bedacht. Nur noch in 60 Prozent aller Fälle reisten Sportler zum Wettkampf in ein freies Land. Schöne neue Sportwelt.

  • Sommer ist die perfekte Bühne

Das Faible der Weltverbände für umstrittene, aber zahlungskräftige Gastgeber macht sich besonders bei Sommersportarten bemerkbar. Während lediglich acht Prozent aller Wintersportereignisse nicht an Demokratien vergeben wurden, war dies im Sommer bei jedem vierten Event der Fall. Das liegt daran, dass Sommerspiele sich besser vermarkten lassen - und deswegen den Ausrichtern ein noch attraktivere Bühne bieten. Zudem haben Skifahren, Eisschnelllauf oder Biathlon vor allem in Europa und Nordamerika Tradition. Olympische Winterspiele in der Wüste - das wäre selbst für Katar eine Nummer zu groß.

  • Wie Katar und Russland Sportler in ihr Land locken

Obwohl Katar gerade einmal zwei Millionen Einwohner hat, veranstaltet das Emirat mittlerweile so viele Weltmeisterschaften wie kaum ein anderes Land. Sieben Großereignisse zwischen 2010 und 2019 wurden an den Wüstenstaat vergeben, hinzu kommt 2022 die Fußball-WM. Dass Gastarbeiter beim Bau der Stadien ausgebeutet werden oder sogar umkommen, dass die Menschenrechte hier nicht geachtet werden, interessiert die Sportfunktionäre offenbar kaum. Empörung gibt es nur, weil die Fußball-WM 2022 statt im Juli im Dezember ausgetragen wird und die Fans in Europa beim Public Viewing an den Zehen frieren.

Nur den undemokratischen Staaten China (neun Mal) und Russland (18 Mal) ist es in den vergangenen Jahren häufiger als Katar gelungen, Sportler in ihr Land zu locken. Insbesondere Russlands Präsident Wladimir Putin sieht Sport als Mittel, um seine Macht zu festigen. Dafür braucht das Land nicht nur große Veranstaltungen, sondern auch erfolgreiche Sportler. Egal zu welchem Preis. Vor einigen Monaten wurde aufgedeckt, wie weitverzweigt und systematisch in Russland gedopt wird. Es überraschte kaum.

Zur größten Sportmacht der Welt hat es Putin allerdings noch nicht gebracht. Denn immerhin ein Land gibt es, das in diesem Jahrzehnt mehr Sportereignisse austrägt: Kanada richtet 20 große Veranstaltungen aus - allerdings fast ausnahmslos in Wintersportarten wie Curling.

  • Welche Sportler in undemokratische Länder reisen müssen

Das Beispiel Curling zeigt: Es gibt auch heutzutage noch Disziplinen, in denen die Sportler zum Arbeiten nicht in umstrittene Länder reisen müssen. So vergab die International Curling Federation von 30 Weltmeisterschaften nur eine einzige in ein unfreies Land, im Jahr 2014 nach China. Snowboarder, Beachvolleyballer oder Bobfahrer mussten sogar noch nie in einem undemokratischen Land antreten. Andere Weltverbände handhaben dies jedoch anders.

Die Gewichtheber etwa ermitteln den Besten der Welt jedes zweite Mal in einem unfreien oder teilweise freien Staat. Ob in Kasachstan, Katar oder China. Das überrascht nicht, denn der Präsident des Weltverbandes, Tamás Aján, gilt als zwielichtiger Typ. An den vielen Dopingfällen der vergangenen Jahre stört der Ungar sich offenbar kaum, die Strukturen und Geldströme sind intransparent, der Verband gilt als extrem korrupt.

Die Amateurboxer, die Ringer und die Taekwondo-Kämpfer müssen ähnlich häufig wie die Gewichtheber Weltmeisterschaften bei undemokratischen Gastgebern absolvieren. Kein Wunder: Der Ruf der International Boxing Association (Aiba), des Ringerverbandes Fila oder der International Taekwon-Do Federation (ITF) ist ähnlich stark ramponiert wie der des Gewichtheberverbandes.

Doch auch der Fußball-Weltverband Fifa vergibt jede dritte WM an einen umstrittenes Land - die kommenden zwei Turniere nach Russland und Katar. Ausgerechnet der größte, reichste und mächtigste Weltverband belegt in diesem unrühmlichen Ranking einen der vorderen Plätze.

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