Süddeutsche Zeitung

Daten im Tennis:2,72 Schläge

Nicht immer spiegeln Zahlen die Dramaturgie wider, die sich in Matches ereignet. Das Duell zwischen John Isner und Milos Raonic ist ein Beispiel dafür.

Von Jürgen Schmieder

Wer mal Tennis gespielt hat, der weiß: Es gibt keinen schmachvolleren Spaziergang als jenen von einem Außenplatz zurück ins Vereinsheim nach einer völlig unverdienten 0:6, 0:6-Niederlage. Jedes einzelne Aufschlagspiel mag über Einstand gegangen sein und die Partie ein Drama epischen Ausmaßes, doch nun darf der Sieger bei der Frage nach dem Ergebnis gelangweilt abwinken und allen anderen mitteilen: nullnull, eine Brille, zwei Löcher, die größtmögliche Demütigung in diesem Sport.

Beim Tennis gewinnt nicht immer der Spieler, der die meisten Ballwechsel für sich entscheidet - was paradox klingt und scheinbar gegen sämtliche Regeln des Wettkampfs gerichtet ist. Es soll ja der siegen, der schneller laufen, höher springen oder weiter werfen kann. Beim Fußball, Handball oder Hockey gewinnt, wer nach der vereinbarten Spielzeit mehr Tore erzielt hat. Beim Boxen, wer den anderen umhaut oder die Punktrichter überzeugt/bestochen hat - was auch fürs Eiskunstlaufen und Turnen gilt.

Ein Tennisspieler muss Ballwechsel für sich entscheiden, Spiele, Sätze - oder, um es deutlicher zu machen: Der Akteur, der am Ende einer Saison auf Platz eins der Weltrangliste steht, hat in diesem Jahr nur knapp 55 Prozent aller Ballwechsel gewonnen. Die Nummer 20 der Welt: die Hälfte. Alle anderen verlieren innerhalb eines Jahres mehr Ballwechsel als sie gewinnen, und die Struktur dieses Sports führt bisweilen zu rätselhaften Resultaten und zu einem fatalen Fehlurteil über die Spannung und Qualität einer Partie. Es kann ein packendes, hochklassiges 6:1, 6:1 geben, und es kann ein stinklangweiliges und schrecklich anzusehendes 7:6, 6:7, 7:6 geben.

Das führt zu dieser Partie zwischen John Isner (USA) und Milos Raonic (Kanada). Man könnte meinen: ein Fünf-Satz-Krimi, mehr als drei Stunden Spielzeit, ein Wahnsinn. Das war es jedoch nicht, es war das Duell zweier Aufschlagkünstler, für alle Bewunderer kunstvoll gestalteter Ballwechsel war es eine schrecklich anzusehende Partie, eine bisweilen gar körperlich schmerzvolle Erfahrung. Knapp die Hälfte aller Ballwechsel war nach dem Aufschlag entschieden, von 241 Ballwechseln gingen nur acht über mehr als neun Schläge. Die Durchschnittliche Schlagzahl pro Punkt: 2,72.

Bessere Indikatoren als das reine Ergebnis - ein 0:0 ist nur selten auch wirklich eine einseitige Partie -, sind zum einen die durchschnittliche Zahl der Schläge pro Ballwechsel oder aber die Laufstrecke, weil sie andeutet, dass es Ballwechsel gegeben haben muss, bei denen sich die Gegner über den Platz gehetzt haben. Isner und Raonic legten bei ihrer Fünf-Satz-Partie zusammen 4692 Meter zurück. Zum Vergleich: Rafael Nadal (Spanien) lief beim 5:7, 7:5, 7:6 (7), 7:6 (3) gegen Karen Chatschanow (Russland) insgesamt 5386 Meter, sein Gegner 5015. Es war aber auch die bislang beste Partie des Turniers, und wer sie nicht gesehen hat, der sollte das schnellstmöglich nachholen. Dauert auch nur vierenhalb Stunden, und keine Sekunde davon ist langweilig.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4115180
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.09.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.