Das bayerische Sportjahr:Staunen über die kleinen Dinge

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2015 hat nicht nur Siege und Niederlagen gebracht, sondern auch kuriose Momente: Trikots zur Tarnung, protestierende Rentner und unerwartete Rechnungen - eine Auswahl.

Wer glaubt, im Sport bereits alles erlebt zu haben, der täuscht sich. 2015 hielt etliche Nebengeschichten auf und neben den Spielflächen bereit, an die zu erinnern sich lohnt.

Das Debüt des Löwen

Ein Herbstabend an einer Schranke zur Bavaria Filmstadt, ein junger Mann in Jogginghose rennt aus einer Limousine, zum Pförtner, er will ins Studio 9, dorthin, wo an diesem Abend geboxt wird, antreten wird unter anderem erstmals als Profi Howik Barsegjan, als Amateur einer der besten Boxer Münchens, genannt: Der Löwe. Der Pförtner sagt dem jungen Mann in Jogginghose, dass er völlig falsch sei, er müsse erst einmal zurück, dann abbiegen, und so weiter. Der junge Mann in Jogginghose rennt zurück zum Auto.

Drei Stunden später hat der junge Mann keine Jogginghose mehr an, er trägt jetzt eine kurze Boxerhose, leichtfüßige Bewegungen, fließende Schlagkombinationen, es ist der Leichtgewichtler Howik Barsegjan in seinem ersten Profikampf. Seinen Gegner, Darko Maksimovic, beherrscht er mühelos, es wirkt, als tanze ein Wasserfloh mit einem Nilpferd. So überlegen ist Barsegjan, dass er zwischendurch zu seinem Trainer schaut und dennoch weiter schlägt und trifft und schlägt und trifft. Barsegjan, der sich als Profi Bebraham nennt, gewinnt nach Punkten; in seinem nächsten Kampf, am 16. Januar, wird er bereits um die deutsche Meisterschaft boxen.

Der Abend, der mit einem verwirrten Mann an der falschen Schranke beginnt, er könnte also der Auftakt zu einer beachteten Profikarriere gewesen sein.

Benedikt Warmbrunn

Aufstand der Rentner

Viele ältere Herrschaften, die im Biergarten des Löwenstüberls und drumherum angeregt und aufgeregt über den Zweitligisten TSV 1860 München diskutierten - man konnte den Eindruck haben, es sei ein ganz normaler Junivormittag in Giesing, abgesehen davon, dass besonders viele Rentner anwesend waren. Doch plötzlich reckten einige von ihnen Plakate in die Luft, "Poschner go home" oder "Rote Karte für Poschner" stand darauf. Es handelte sich um eine Demonstration gegen den Sport-Geschäftsführer Gerhard Poschner, dem Investor Hasan Ismaik trotz durchschlagenden Misserfolgs noch immer treu verbunden war. Auch kleine Reden wurden gehalten. "In den letzten 52 Jahren hat es noch nie so wenig Spaß gemacht wie in dieser Saison, zu einem Heimspiel von Sechzig zu gehen", rief der Allesfahrer Franz Hell, der seit 52 Jahren zu jedem Spiel fährt. Und die Trainerlegende Karsten Wettberg, der so genannte König von Giesing, wetterte gegen Ismaiks Münchner Vertreter: "Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so wenig Ahnung von Fußball hat wie Noor Basha." Nach abstrusem Hin und Her wurde Poschner dann tatsächlich entlassen, und die engagierten Rentner können nun behaupten, mit ihrem Protest dazu beigetragen zu haben. Allerdings wurde ihre Meinung nicht vollumfänglich berücksichtigt: Basha wurde kurz darauf Geschäftsführer.

Markus Schäflein

Wechsel ohne Nebengeräusche

Die Basketballerinnen des deutschen Meisters TSV Wasserburg sind seit 45 Spielen saisonübergreifend ungeschlagen. Zumindest in der Frauen-Bundesliga und im nationalen Pokalwettbewerb. Das ist eine imposante Serie, wenn man bedenkt, dass dazwischen im Sommer der Trainer ausgetauscht wurde. Ein Trainerwechsel bei einer Mannschaft, die nicht verliert, Meister und Pokalsieger wird? Ja, in Wasserburg geht das so geräuschlos, dass fast niemand etwas davon mitbekommen hat. Es war wohl der unkomplizierteste Trainerwechsel des Jahres, weil die Mannschaft anschließend einfach weiter gewonnen hat unter dem neuen Trainer Georg Eichler. Sein Vorgänger Bastian Wernthaler fand, dass der Klub zu gut, zu erfolgreich geworden ist für einen Trainer, für den Basketball nicht der Hauptberuf ist, sondern nur das Nebengeschäft. Wernthaler ist im Hauptberuf Anwalt mit zwei Büros. "Ich kann das Team nicht mehr besser machen, um auch international erfolgreich zu sein", sagte er - und hörte einfach auf nach einer Saison ohne Niederlage in nationalen Wettbewerben. Inzwischen hat er die Frauen-Nationalmannschaft übernommen. Nebenberuflich versteht sich. Blöd ist nur, dass Wasserburg auch mit einem Profitrainer im Eurocup wieder in der Vorrunde ausgeschieden ist.

Matthias Schmid

Von Balkonen und Flügen

Auf dem Rasen gibt es derzeit nicht vieles, was die Fußballerinnen des FC Bayern überraschen kann, von 35 Bundesligaspielen 2015 verloren die Münchnerinnen kein einziges. Spielführerin und Weltmeisterin Melanie Behringer nennt das zurückliegende Jahr dennoch eines, "in dem ich viel erlebt habe, was ich vorher nicht für möglich gehalten hatte". Vor drei Wochen erst blickten sich die FCB-Spielerinnen ungläubig an, als ihnen beim Abflug zum DFB-Pokal-Viertelfinale nach Bremen am Flughafen eröffnet wurde, der Flieger sei überbucht, fünf der Spielerinnen könnten nicht mit. Am Ende waren doch alle mit an Bord und später auch der Halbfinal-Einzug gelungen. Im Mai hatte das mit dem Fliegen noch besser geklappt: Nachdem die Bayern-Frauen erstmals seit 1976 wieder den deutschen Titel geholt hatten, richtete der FC Bayern eine Doppel-Meisterfeier aus - und ließ dafür die Nationalspielerinnen, die zur WM-Vorbereitung in der Schweiz waren, per Helikopter nach München einfliegen. Dort standen dann am 24. Mai erstmals in der Geschichte des deutschen Fußballs die Männer und Frauen eines Vereins, um bei der historischen gemischten Balkon-Premiere erstmals gemeinsam ihre Meisterschaften zu feiern. 25 000 Fans jubelten den Frauen zu - "ein unvergessliches Erlebnis", meinte Behringer. Nach dem letzten Pflichtspiel des Jahres, einem 2:0-Sieg in Potsdam, ließen die Bayern-Fußballerinnen 2015 dennoch ganz bodenständig ausklingen: An einer Bude vor dem Berliner Flughafen gab es zum Abschluss eine Runde Currywurst mit Pommes und Pils. "Ich denke, das geht heute in Ordnung", meinte die Norwegerin Nora Holstad.

Kathrin Steinbichler

Ein Tor aus 90 Metern

Christopher Pfeiffer ist seit dem 25. April mehr als ein Regionalliga-Bayern-Torhüter - er ist eine kleine Internet-Berühmtheit. An jenem Tag nahm der damalige Torhüter des 1. FC Schweinfurt 05 im Münchner Stadion an der Grünwalder Straße auf Höhe des eigenen Elfmeterpunktes den Ball in die Hand und führte einen handelsüblichen Abschlag aus. Wenige Sekunden später war daraus aber ein ganz besonderer geworden, denn der Ball hatte sich über Michael Netolitzky, Pfeiffers Torhüterkollegen von 1860 München II, ins Tor gesenkt. Ein Torhüter und ein Treffer aus knapp 90 Metern - es war schnell die Rede von einem "Fußballwunder" und einem "Jahrhunderttor". Der Treffer machte im Internet weltweit die Runde, ein Bekannter Pfeiffers, der in den USA lebt, sah ihn sogar auf amerikanischen Seiten. Die Flugkurve sei "der Wahnsinn" gewesen, erzählte Pfeiffer, der seinen Vertrag in Schweinfurt mittlerweile aufgelöst hat. Er habe den Ball "so gut es geht" nach vorne auf den Stürmer schlagen wollen, "der Rest ist einfach passiert". Da Schweinfurt in jener Partie kurz vor Schluss 1:2 zurücklag, rückte Pfeiffer noch in den gegnerischen Strafraum mit auf - ein zweiter Treffer gelang ihm aber nicht mehr. Das eine Tor dürfte aber dafür sorgen, dass in der Physiotherapiepraxis in Ansbach, in der er im neuen Jahr arbeiten wird, immer wieder mal über dieses Spiel gesprochen wird.

Christian Bernhard

Guardiolas Entblößung

Manchmal, wenn sich alles zusammenfügt, muss etwas reißen, so war das auch an diesem Frühjahrsabend in der Arena in Fröttmaning. Das Viertelfinale der Champions League, der FC Bayern empfängt zum Rückspiel den FC Porto, es war ein Abend nach einer turbulenten Woche. Das Hinspiel hatte der FC Bayern 1:3 verloren, nicht einmal 24 Stunden später trat Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt zurück, der jahrelang der Mannschaftsarzt gewesen war, vor allem aber eine Koryphäe. Der Arzt hatte sich monatelang mit dem Trainer, Pep Guardiola, gestritten, der Rücktritt des einen brachte dem anderen nun noch mehr Aufmerksamkeit. Und der andere nutzte sie, um einen Abend vorzubereiten, der mehr ein Teufelsritt als ein Fußballspiel war. Guardiola stellte seine Elf komplett um, Philipp Lahm zum Beispiel spielte als Rechtsaußen, und von der Seitenlinie gab der Trainer noch gestenreicher als sonst seine Anweisungen. Er hüpfte, sprang, wedelte mit Händen und Füßen. Was dazu führte, dass Guardiola, der mit seinem Körper nicht nur jede Bewegung des Spiels mitmacht, sondern der seinen Körper auch bevorzugt in eng anliegende Anzüge steckt, dass dieser Mann mit dem ungewöhnlichen Gespür für Ästhetik also auf einmal mit einer gerissenen Anzughose im Stadion stand. Ein kleiner Schlitz, ein paar Zentimeter lang nur. Und doch stand für den 6:1-Erfolg, für den Einzug ins Halbfinale, für diesen furiosen Abend am Ende ganz besonders Guardiolas entblößter Oberschenkel.

Benedikt Warmbrunn

Trikot zur Tarnung

Ein Unbekannter auf dem Eis hat im März für Aufregung um den EV Landshut gesorgt. Die Niederbayern gewannen das Viertelfinale in der zweiten Eishockey-Liga, im vierten Spiel der Serie in Kassel wärmte sich beim EVL allerdings ein Ersatztorwart aufgewärmt haben, der nicht spielberechtigt war. Zur Tarnung trug der ominöse Spieler Trikot und Helm des erkrankten Maximilian Englbrecht. Die Landshuter behaupteten kurzzeitig, es handele sich dabei um Marco Eisenhut - eine ziemlich blöde Ausrede, denn der saß zeitgleich bei Kooperationspartner ERC Ingolstadt im Spiel gegen Iserlohn auf der Bank. Die Liga leitete ein Ermittlungsverfahren ein, das im Sande verlief. Disqualifiziert wurde der EVL ohnehin nicht - der nicht identifizierte Aushilfsspieler kam in der Begegnung nicht zum Einsatz.

Markus Schäflein

Diskutierte T-Shirts

Die Regionalliga-Fußballer des SSV Jahn Regensburg hatten gerade 2:1 gegen die SpVgg Unterhaching gewonnen und die Tabellenführung verteidigt, da zogen sich die Spieler T-Shirts an, um ihrem Trainer Christian Brand zu danken und liefen zum Feiern in die Fankurve. Es war ein perfekter Nachmittag, sollte man meinen, aber leider wurde die Mannschaft lautstark ausgebuht. Denn die "Pro-Brand"-Shirts für den Übungsleiter, dessen Abschied zur Winterpause zu diesem Zeitpunkt schon feststand, erzürnten die Fans. Sie standen mit dem mittlerweile zum Drittligisten Rostock gewechselten Übungsleiter auf Kriegsfuß - nicht nur, weil die Dominanz in der vierten Liga nach dem Abstieg nicht wunschgemäß groß war. Sondern auch wegen eines Vorfalls aus der vergangenen Saison im Drittligaspiel in Unterhaching: Als sich einige Regensburger Anhänger eine Rangelei mit den Platzordnern lieferten, sprach Brand danach von "Kriminellen". Dass er gehen musste, hatte auch mit der Meinung der Fans zu tun, Jahn-Präsident Hans Rothammer sagte: "Die Fans sind unsere Kunden. Ihre Haltung fließt selbstverständlich in unsere Meinungsbildung ein." Wenn das stimmt, haben die Verantwortlichen viel Stoff zum Nachdenken. Denn viele Fans haben auch Sportchef Christian Keller im Visier, und die Spieler schätzen sie nach der T-Shirt-Aktion auch nicht mehr besonders. Der neue Trainer Heiko Herrlich muss nun die Parteien versöhnen. Sprich: Er muss aufsteigen.

Max Ferstl

Gras für 122,92 Euro

Wer sich um den Erhalt von Fauna und Flora einsetzt, war bislang meist im Bund Naturschutz verortet. Seit dieser Bundesliga-Hinrunde steht fest, dass auch Fußballfans sehr inbrünstig um den Erhalt von Grünflächen ringen. Zumindest, wenn es um die kostbaren Grashalme am Elfmeterpunkt geht. Es lief die 56. Spielminute in der Partie zwischen dem 1. FC Köln und dem FC Augsburg, als die Gemüter im Stadion ordentlich hochkochten. Der Schiedsrichter hatte auf Elfmeter für Köln entschieden, da schritt FCA-Torhüter Marwin Hitz schimpfend und gestikulierend aus seinem Kasten nach vorne. Während er auf den Schiedsrichter einsprach, merkte der nicht, wie Hitz mit der Stollensohle und wenigen kleinen, aber energischen Umdrehungen den Rasen um den Elfmeterpunkt bearbeitete. Kurz darauf lief Kölns Modeste zum Strafstoß an, rutschte auf besagter Stelle mit dem Standbein aus - und verschoss. Unsportlich sei die Aktion gewesen, prasselte nach dem 1:0-Sieg des FCA die Kritik auf Hitz ein. Der gestand ein: "Das war nicht ok und kommt nicht mehr vor." Tage später bekam der Schweizer eine Rechnung vom Chef der Kölner Sportstätten: 122,92 Euro für den Austausch des Rasens am Elfmeterpunkt, berechnet für einem Quadratmeter Sportrasen sowie zwei Facharbeiterstunden samt Umsatzsteuer. Hitz überwies das Geld, das einer sozialen Einrichtung zugute kommen sollte, kurz darauf wurde er von den Bundesligastatistiken wegen seiner zahlreichen Paraden im Dezember als Torhüter des Monats vermeldet. "Sehr aufwühlend" sei das Jahr des FC Augsburg gewesen, meinte Trainer Markus Weinzierl. So kann man es nennen. Widerstandslos.

Kathrin Steinbichler

© SZ vom 31.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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