Darts-WM:Von den Buhrufen schwer beeindruckt

Michael van Gerwen

Schwer enttäuscht: Michael van Gerwen verliert das Halbfinale bei der Darts-WM.

(Foto: AP)
  • Das Traumfinale bei der Darts-WM ist geplatzt, weil Michael van Gerwen überraschend gegen Neuling Rob Cross verliert.
  • So geht der 16-malige Weltmeister Phil Taylor unverhofft als Favorit ins Finale am Neujahrstag.

Von Sven Haist, London

Als die Atmosphäre bei der Darts-WM kurz nach Mitternacht ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat, ahnte keiner im Alexandra Palace, was das gleich für ein Nachspiel haben würde. Die palastähnliche Spielstätte befindet sich ganz oben auf einem Hügel, wodurch sich der bergab verlaufende Rückweg vereinfacht. Gleichzeitig liegt sie aber auch weit außerhalb des Londoner Stadtzentrums. In Zone drei fahren die Taxis mitten in der Nacht bloß sporadisch vorbei, die Oberlandzüge haben ihren Dienst längst eingestellt. Die Suche begann also für die ungefähr 3100 Menschen, was denn nun die sinnvollste Reiseroute nach Hause sei. Denn übernachten wollte ja dann doch niemand im innig geliebten Ally Pally. Und Autofahren, das war schon im Voraus klar, konnte keiner mehr nach sechs Stunden des intensiven Feierns.

Die unkomfortablen Nachtbusse konnten letztlich nur vereinzelte Gruppen vermeiden, die sich umgehend auf den halbstündigen Fußweg zur nächst gelegenen U-Bahn-Haltestation machten. Um die Wartezeit auf dem Bahnsteig zu überbrücken, besangen die Leute unter anderem einmal mehr ihr Idol Phil Taylor ("There's only one Phil Taylor"), den charismatischen Raymond van Barneveld ("Barney Army, Barney Army") und den englischen Neuling Rob Cross ("Robbie, Robbie Cross nananana"). Nur einen aus dem illustren Kreis der Darts-Werfer ließen sie außen vor: Michael van Gerwen, die Nummer eins der Welt.

Die Zuschauer buhen van Gerwen aus

Der Titelverteidiger wird in der Szene respektiert für die Fähigkeit, regelmäßig die höchsten Punktausbeuten abliefern zu können. Im Halbfinale gegen Cross war er sogar ein paar Mal dabei, das perfekte Spiel abzuliefern, mit neun Darts den Ausgangswert von 501 auf null zu setzen. Die Gunst des Publikums brachte ihm das nicht ein. Bei seinen sechs Pfeilen, mit denen er jeweils die Partie für sich hätte gewinnen können, buhte ihn die Masse aus. Das störte van Gerwens Aufmerksamkeit, prompt verfehlte er dreimal das Feld der Doppel-8, zwei Mal das Feld der Doppel-4 und abschließend das Feld der Doppel-16. "Das ist extrem schmerzhaft. Ich hasse es, zu verlieren. Diese Doppel waren so knapp an der Kante. Mich macht das fertig. Normalerweise passiert mir das nicht. Ich kann mich nur selbst dafür verantwortlich machen und niemanden anders", sagt van Gerwen.

Seine Fehlwürfe wurden bejubelt wie Tore im Fußballstadion, ebenso der siegbringende Wurf von Cross um 00:12 Uhr britischer Zeit auf die Doppel-8, mit dem sich der 27 Jahre alte Engländer erstmals ins Finale warf - und damit den Weg freimacht für Taylor, an Neujahr mit seinem 17. WM-Titel das Karriereende zu begehen. In einem der dramatischten Partien in der Geschichte des Darts warf Cross im Sudden Death den derzeit besten Spieler van Gerwen mit 6:5 (3:2, 2:3, 3:1, 2:3, 3:2, 0:3, 3:1, 0:3, 2:3, 3:1, 6:5) aus dem Turnier. Vor dem finalen Wurf bekreuzigte sich unter den Zuschauern sein Vater, von dessen Schultern aus jubelte ihm sein sechs Jahre alter Sohn zu, der erstmals in der Halle war. "Worte können das nicht erklären, wirklich nicht", sagt Cross. Der gelernte Elektriker debütierte im Januar als Profi und gewann in seiner Premierensaison auf Anhieb gleich vier Turniere. Bei seinem WM-Einstand hat er es nun direkt ins Endspiel geschafft. Vor ihm gelang das im Jahr 1990 bloß einem gewissen Taylor. Im Finale triumphierte der damals über seinen englischen Landsmann Eric Bristow.

Durch den Überraschungscoup von Cross fällt das sogenannte Traumfinale zwischen dem 16-maligen Weltmeister Taylor und seinem legitimen Nachfolger van Gerwen aus. Bei einem solchen Vergleich hätte Taylor wohl aus der Position des Außenseiters heraus werfen müssen. Die neue aufstrebende Generation mit van Gerwen vorneweg trainiert gezielt daraufhin, in die Weltspitze zu kommen. Über die Preisgelder lässt sich mittlerweile eine professionelle Karriere finanzieren. Mit geballten Fäusten und weit aufgerissenem Mund bejubelt van Gerwen seine Leistungen auf der Bühne. Die Lockerheit, zwischendurch auf die Bedürfnisse des Publikums einzugehen, besitzt er nicht. Sein Streben nach Titeln, Ruhm und Geld konterkariert die eher bodenständige Sozialstruktur der Menschenmenge. Großspurig kündigte van Gerwen an, dass er besser sei als Taylor: "Ehrlicherweise denke ich, dass ich ihn schlagen würde, wenn wir beide unser bestes Niveau zeigen."

Rekord-Weltmeister Taylor freut sich auf den Ruhetag

Durch den Rücktritt von Taylor dürfte van Gerwen nach der WM in der Sportart weiter an Einfluss gewinnen. Der polarisierende Niederländer soll das Gesicht einer Branche werden, die er nun schon seit einiger Zeit dominiert. Die New York Times bezeichnete den Doppelweltmeister gar als Michael Jordan des Darts. Ein Star zum Anfassen ist er nicht, zum gewaltigen Erscheinungsbild passt sein Spitzname Mighty Mike. Im Hinblick darauf, das eigene Charisma zu erhöhen, kann van Gerwen sich noch einiges abschauen von seinem Dauerrivalen Taylor. Durch das 6:1 über den Qualifikanten Jamie Lewis aus Wales erreichte der Altmeister sein 21. WM-Finale. "Für mich ist das surreal, es ist, als ob ich gar nicht da wäre. Als ob ich in der Lotterie gewonnen hätte", sagt Taylor.

Mit 57 Jahren ist Taylor nicht mehr in der Lage, die Höchstpunktzahl 180 in Serie zu produzieren. Diesen Nachtteil gleicht er mit Raffinesse und Nervenstärke aus. "Ich normalisiere die Situation. Das Beste ist jetzt, dass ich einen Ruhetag habe." Im Gegensatz zu Cross, dem nicht zugetraut wird, eine vergleichbare Leistung wie gegen van Gerwen abermals zu zeigen, kennt Taylor die Umstände eines Finals. Und die Fans, die beim Darts weit mehr Einfluss besitzen als gemeinhin angenommen, werden ihn gewiss nicht hängen lassen bei seinem allerletzten Spiel.

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