Darts-WM in London:Erfolgsfaktor: betrunkene Fans

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Das Darts-Publikum im Ally Pally ist in der Sportwelt ein spezielles. (Foto: Peter Cziborra/Action Images/Reuters)

Mehr noch als in den vergangenen Jahren versuchen die Spieler, die Zuschauer im Londoner Alexandra Palace auf ihre Seite zu ziehen. Die Stimmung in der Halle beeinflusst die Matches – doch die Sympathie des Publikums kann schnell wechseln.

Von Sven Haist, London

Wenn im Alexandra Palace bei der Darts-Weltmeisterschaft die Post abgeht, sind die Fernsehkameras nicht auf Sendung. In den Spielpausen, in denen im TV Werbung gezeigt wird, heizen die Organisatoren die Stimmung mit Karaoke an. In der Regel wird „A­n­gels“ von Robbie Williams gespielt, auch am Neujahrsabend war das so, als zu später Stunde das letzte Viertelfinale zwischen Luke Littler und Nathan Aspinall lief. Die Leute grölten den Welthit so laut mit, man hatte den Eindruck, in der Halle würden überall Lautsprecher stehen. Der Song war selbst hinter der Bühne zu hören, eventuell kehrte Littler deswegen schon nach wenigen Sekunden zurück. Er gestikulierte ins Publikum und warf dazu einige Probedarts. Weil die Unterbrechung schneller vorbei war als das Lied, wurde die Playbackversion abrupt gestoppt – aber die Masse sang bis zum Ende unbeirrt weiter.

Die Rolle des Publikums hat sich im Darts zuletzt massiv verändert. Früher sorgten die Fans mit guter Laune und fantasievollen Kostümen für Abwechslung. Doch nun werden die Leute zunehmend selbst zu Akteuren. Ihre Bedeutung zeigt sich darin, dass die Spieler durch diverse Interaktionen immer mehr um deren Gunst werben.

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Der 17-jährige Engländer Luke Littler etwa dominierte sein Match lange Zeit klar, bis sein Konkurrent Nathan Aspinall auf einmal aufholte. Die Menge habe auf ein Comeback gehofft, erklärte Littler nach seinem Sieg, aber er habe das Spiel schnell über die Bühne bringen wollen. Einen vergleichbaren Spielverlauf hatte es zuvor im Duell zwischen Stephen Bunting und Peter Wright gegeben. Bunting gewann die ersten vier Sätze, verlor danach für kurze Zeit die Kontrolle, ehe er sich den entscheidenden fünften Punkt sicherte. In beiden Matches hatte die Unterstützung im Ally Pally aufgrund der Einseitigkeit umgeschlagen. Zunächst verhielt sich die Mehrheit weitgehend neutral, bis die Sympathien deutlich zugunsten der unterlegenen Konkurrenten kippten.

Er habe gewusst, dass die Fans „in der Mitte des Spiels entscheidend“ sein könnten, betonte Bunting im Interview auf dem Podium. Danach sprach er die Fans persönlich an und wedelte lächelnd mit dem Finger: „Hört zu, in den ersten vier Sätzen wart ihr unfassbar gut!“, bedankte er sich – aber sie könnten noch besser werden. Die Rüge war eine scherzhafte Anspielung auf die Phase, in der Wright mehr akustischen Zuspruch genossen hatte als er.

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Mehrere Gespräche mit Fans am Viertelfinalabend deuten an, dass überwiegend mit den Außenseitern mitgefiebert wird. Er sei „immer für den Underdog“, weil die Atmosphäre so besser sei, sagt Nick, der aus der Nähe von Freiburg angereist ist. Das sieht Johannes aus München genauso: Die Tendenz gehe zum Außenseiter, betont er, weil man hoffe, dass die Spiele „möglichst lange“ anhalten. Sobald die angesetzten Partien in einer Session zu Ende sind, werden die Besucher sofort zum Ausgang verwiesen.

Aus seiner Sicht sei man im Ally Pally „ein Stück weit Stimmungsmacher“, glaubt Johannes. Die Anhänger seien selbst dafür verantwortlich, dass sich das Flair in der Halle wie ein Hexenkessel anfühle. Wegen all den Nebengeräuschen sei er deswegen bei den Darts-Matches vor dem TV wesentlich fokussierter als vor Ort. In einer anderen Spielsession berichtet Dennis aus Köln, dass er bereits bei allen möglichen Sportevents gewesen sei, Fußball, Handball, Eishockey, aber das Darts-Publikum sei einmalig: Der Charme bestehe darin, sich hier „wie in der Kneipe“ zu fühlen.

Der Niederländer Michael van Gerwen wirbt bei seinem Einlauf um die Gunst des Publikums. (Foto: James Fearn/Getty Images)

Die Stimmung im Darts ist immerzu unbeständig, sie kann so unvorhersehbar und schnell die Richtung wechseln wie der Wind vor dem Ally Pally – er steht auf einer Anhöhe im Norden Londons. Der Einfluss auf das Spiel ist aus mehreren Gründen nicht von der Hand zu weisen. Die Spieler können die Fans bei ihren Würfen nicht sehen, aber direkt in ihrem Rücken hören. Die Enge in der Halle verstärkt dazu die Wucht der Gesänge. Und im Vergleich zu manch anderen Sportarten agieren die Leute im Darts ungeniert, sie nehmen keine Rücksicht auf mögliche Belange der Profis. Sie folgen eher ihrem eigenen, zufälligen Unterhaltungsbedürfnis als dem Geschehen im Match. Da sich zu viele Vorgänge in der alkoholtrunkenen Halle spontan ereignen, lässt sich das Verhalten des Publikums in der Regel kaum prognostizieren.

Im Nachgang der meisten Partien kommen die Spitzenspieler in irgendeiner Form stets auf das Publikum zu sprechen – überwiegend positiv. Das liegt zum einen daran, dass die Leute durch ihre Begeisterung die Attraktivität von Darts steigern. Und zum anderen, weil wohl kein Spieler die Fans gegen sich aufbringen möchte. Alle Spieler, die noch im Turnier sind, gehören zu den Lieblingen. Kürzlich bekannte der englische Topmann Chris Dobey, es seien die Zuschauer gewesen, die ihm zur nächsten Runde verholfen hätten. Wenn man sie auf seiner Seite habe, wolle man sie nicht enttäuschen. Daher versuche man, ein paar Prozent mehr zu geben, sagte Dobey. In gewisser Weise bestimmt so auch das Publikum den neuen Weltmeister im Pfeilwerfen mit – wenn es nicht gerade „Angels“ singt.

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