Darts-WM:"Das letzte Leg war schrecklich"

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Gabriel Clemens (rechts) verpasst gegen Krzysztof Ratajski den Einzug ins Viertelfinale. (Foto: Luke Walker/Getty)

Im Achtelfinale zwischen Gabriel Clemens und Krzysztof Ratajski kommt es zu einem dramatischen Schluss-Akt - mit dem schlechteren Ende für den deutschen Profi. Der ist sauer auf sich selbst.

Von Sven Haist, London

Die Entscheidung fiel auf dem Irrenhaus. Das Feld der Doppel-1 trägt im Darts den Namen "Madhouse", weil es einen kirre machen kann, dieses selten bespielte Segment bewerfen zu müssen. Konträr zum Bulls-Eye und den anderen Doppelfeldern auf der Dartsscheibe, mit denen die Teilabschnitte jeweils beendet werden müssen, führt aus dem Irrenhaus kein anderer Weg, als die verdammte Doppel-1 zu treffen. Im Sudden-Death-Leg des Achtelfinals der Darts-WM in London zwischen dem Deutschen Gabriel Clemens und dem Polen Krzysztof Ratajski spielte sich ein Drama ab - bis Ratajski mit dem zehnten Match-Dart den Fluch besiegte und mit 4:3 Sätzen erstmals in seiner Karriere das Viertelfinale des wichtigsten Jahresturniers erreichte.

Nachdem der in der Weltrangliste höher klassifizierte Ratajski zwei Versuche auf der Doppel-16 vergeben hatte, um das Pfeil-Spiel vorzeitig zu beenden, ging es am Dienstagabend im entscheidenden Durchgang beim Stand von 3:3 in Sätzen und 2:2 nach Teilabschnitten ein letztes Mal darum, den Ausgangswert 501 auf 0 zu setzen. Mit seinen Matchdarts drei und vier scheiterte Ratajski an Doppel-20 und Doppel-10, bevor Clemens mit seiner ersten Chance zum Sieg an der Doppel-16 vorbeizielte, seinem Lieblingsfeld.

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Der knapp viertelstündige Final-Akt war an Spannung schwer zu überbieten und verdient es, im Protokoll gelesen zu werden: Ratajski lässt zwei Darts auf Doppel-5 aus und wirft dann auf Einfach-1; Clemens verpasst die Doppel-8 zwei Mal und haarscharf die Doppel-4; Ratajski scheitert doppelt an Doppel-2 und - Madhouse - einmal an Doppel-1; Clemens verfehlt die Doppel-4, die Doppel 2, und - Madhouse - die Doppel-1; Ratajski trifft das Madhouse! Er hat das Irrenhaus geschafft, aber das Irrenhaus auch ihn.

Ergriffen sinkt Ratajski, genannt "Polish Eagle", polnischer Adler, vor der Dartsscheibe auf die Knie, steht wieder auf, läuft umher, kann sich vor Fassungslosigkeit kaum auf den Beinen halten. Insgesamt neun Match-Darts hatte der 43-Jährige vergeben, bis er doch noch gewann. "Das letzte Leg war schrecklich, einfach verrückt. Ich konnte es nicht fassen, dass Gabriel auch nicht getroffen hat", sagte Ratajski: "Normalerweise verliere ich die engen Partien immer, aber heute war ich der glücklichere Spieler." Er erinnerte sich nicht, jemals eine vergleichbare Partie absolviert zu haben.

Nach der Umarmung mit Clemens zeigte Ratajski kopfschüttelnd an, nicht erklären zu können, was soeben vor sich gegangen war. Während der 34 von 35 möglichen Legs (für einen Satz werden drei gewonnene Teilabschnitte benötigt) war beiden die nervliche Anspannung anzumerken, erstmals ein WM-Viertelfinale im Alexandra Palace erreichen zu können.

Gabriel Clemens gelang es nach dem Überraschungserfolg über Titelverteidiger Peter Wright in der Runde zuvor nicht, sein Spielniveau zu halten: Pro Anwurf verringerte sich seine durchschnittliche Punktzahl um sechs Zähler (von 98,65 auf 92,05 Punkte). Die Quote auf die Doppelfelder ließ ebenso nach - statt knapp jedes zweiten Wurfs fand nur noch jeder dritte das Ziel. Am meisten ärgerte sich Clemens jedoch über die sieben vergebenen Match-Darts. So etwas dürfe ihm nicht passieren, sagte er: "Ich bin sauer auf mich selbst. Im Moment kann ich nichts Positives sehen."

Clemens dürfte sich in der Weltrangliste weiter verbessern

Zwei Tage nach dem größten Erfolg seiner Profikariere, die erst Anfang 2019 begann, erlebte Clemens, 37, seine bisher größte Enttäuschung. "The German Giant", heißt er in der Szene, meist wird er nur "Gaga" gerufen. Dies war erst seine dritte Turnierteilnahme. Und es erging ihm ähnlich wie seinem Landsmann Kevin Münch vor drei Jahren, der nach einem Husarenritt im Duell mit dem zweimaligen Weltmeister Adrian Lewis in der Runde darauf ernüchternd ausgeschieden war. Die plötzlich auftretende Erwartungshaltung, die eigene und die der Fans, kann einem Spieler die nötige Leichtigkeit nehmen. Denn die drei Dartspfeile lassen sich noch immer am besten auf die Scheibe werfen, wenn sie einem locker von der Hand gehen.

Durch das Aus von Mitfavorit Wright wäre die untere Hälfte des Tableaus fast frei an favorisierten Spieler und ein Durchmarsch für Clemens bis ins Halbfinale somit möglich gewesen. Sogar der Weltranglistenerste Michael van Gerwen stand im mitreißenden Abendspiel gegen Joe Cullen kurz vor einer Niederlage. Mit 19 Würfen auf die Höchstpunkzahl 180 in einem Best-of-Seven-Spiel egalisierte Cullen den Rekord von Gary Anderson - und war bei zwei Chancen aufs Bulls-Eye jeweils nur ein Dart vom Sieg entfernt.

Trotz der vorläufigen Enttäuschung für Clemens, 37, nicht den ganz großen Coup bei dieser WM geschafft zu haben, gilt das Achtelfinale als das bisher brillanteste Resultat des gelernten Schlosser aus dem Saarland. Dazu gab es ein Preisgeld von 35 000 Pfund - mehr als er zuvor bei jedem anderen Turnier einspielte. Als bester Deutscher dürfte sich Clemens demnächst in der Weltrangliste von Platz 31 weiter nach vorn verbessern. Und im nächsten Jahr in den "Ally Pally" zurückkehren - um einen neuen Anlauf aufs Irrenhaus zu nehmen.

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