Darmstadt 98:Naives Spalierstehen

SV Darmstadt 98 v 1. FC Koeln - Bundesliga

Der Pfosten als Wutopfer: Darmstadts Torwart Michael Esser beim Sechs-Gegentreffer-Spiel gegen Köln.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Der neue Trainer Torsten Frings redet sich in Rage: Beim 1:6 gegen Köln zeigen die vom Abstieg bedrohten Hessen keine Aussichten für eine Besserung.

Von Tobias Schächter, Darmstadt

Sidney Sam hatte ein Tor erzielt, das erste für Darmstadt 98 nach einer Flaute von 601 Minuten. Für den aus Schalke geholten Dribbler mag das persönliche Erfolgserlebnis bei seinem Debüt für die Lilien gut fürs eigene Selbstvertrauen sein. Dieser Rückrundenauftakt gegen den 1. FC Köln aber erschütterte Sams neuen Klub im Kern: Mit 1:6 (0:3) ging der Tabellenletzte unter, Sams zwischenzeitliches 1:3 per Elfmeter (66.) blieb angesichts des Debakels nur eine unbedeutende Anekdote. Sams Bemühen, Optimismus zu verbreiten, hatte deshalb den Klang einer Durchhalteparole: "Es ist noch nichts verloren, in 16 Spielen kann noch viel passieren, wir sind ja noch nicht abgestiegen."

Zu Platz 16 beträgt der Rückstand bereits sechs Zähler

Theoretisch stimmt das zwar, aber angesichts der erschreckenden Leistung, nur neun Punkten nach 18 Runden und dem elften sieglosen Pflichtspiel in Serie glaubt kaum noch jemand an eine Wende: Viele Fans verließen am Samstag desillusioniert vorzeitig das Stadion. Der Abstand auf Ingolstadt auf Relegationsplatz 16 beträgt bereits sechs Zähler.

Schon nach dem zweiten Spiel mit Trainer Torsten Frings gibt es nichts bei den Lilien, was Hoffnung auf Besserung macht - statt Aufbruchsstimmung herrscht Untergangsblues. Hypothetisch bleibt die Frage, was passiert wäre, hätte Mittelfeldspieler Jérôme Gondorf tatsächlich die große Chance genutzt, seine Elf endlich einmal in Führung zu bringen (24.). Und wer weiß: Hätte Schiedsrichter Robert Kempter den Schlag von Kölns Anthony Modestes in das Gesicht von Gegenspieler Aytac Sulu geahndet - kurz vor dem 3:0 des Kölner Angreifers (42.) -, vielleicht wären die Lilien in Überzahl noch einmal zurückgekommen. Der DFB erwägt übrigens Anfang der Woche die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Modeste.

Aber selbst bei mehr Spielglück bleiben große Zweifel an der Leistungsfähigkeit dieser Hessen. Die Darmstädter ließen auch mit dem neuen Trainer ihre einstige Stärke - das kompakte Verteidigen - vermissen. So leicht wie am Samstag wird den Kölnern das Toreschießen vermutlich nicht so schnell wieder gemacht werden. In der vergangenen Saison noch als unangenehmer Gegner gefürchtet, ist es mittlerweile eher eine Freude, gegen diese 98er zu spielen. Keine Mannschaft hat weniger Tore erzielt (zwölf), und nur Bremen hat zwei mehr bekommen (38). Gegen Köln stand die Darmstädter Defensive bei den Gegentreffern so naiv Spalier wie die Einlaufjungs beim Anpfiff. "So darf man sich nicht einmal in einem Testspiel präsentieren", ätzte Kapitän Sulu, dessen Leistungseinbruch wie ein Symbol für die Malaise des ganzen Klubs steht. Sicher haben die Darmstädter in der vergangenen Runde über ihrem wahren Leistungsvermögen gespielt. Der Weggang von Erfolgstrainer Dirk Schuster, mit dem die Lilien überraschend von Liga 3 bis zum Klassenerhalt in die Bundesliga durchstarteten, konnte bislang ebenso nicht kompensiert werden wie der von Torjäger Sandro Wagner nach Hoffenheim. Auch der aus Leipzig geholte Stürmer Terence Boyd erweckte bei seinem Debüt nicht den Eindruck, den Hessen nachhaltig helfen zu können.

Das Lilien-Märchen war mit Schusters Wechsel nach Augsburg beendet. Die mitunter unangenehmen Realitäten des Profisports halten seither auch in Darmstadt Einzug. Die Trennung von Stürmer Änis Ben-Hatira inklusive Abstandszahlung nach der Debatte um dessen Verbindungen zu einer vom Verfassungsschutz als salafistisch eingestuften Organisation ist nur ein Beispiel. Jérôme Gondorf gab jüngst zu: "Für Darmstadt waren die vielen fremdsprachigen Spieler im Sommer Neuland, das waren wir alle nicht gewohnt, und vielleicht war das auch ein Stück weit eine Überforderung."

Trainer-Novize Frings redet sich in Rage

Schusters Nachfolger Norbert Meier blieb bis zu seiner Entlassung ein Fremder, in Torsten Frings holten die Lilien nun in höchster Not einen Coach ohne Cheftrainer-Erfahrung. Am Samstag redete sich der ehemalige Nationalspieler wegen der Personalie Florian Jungwirth (der Spieler hatte im Kader gefehlt) in Rage. Mit Jungwirth ist abgesprochen, dass er in die USA wechseln kann, wenn der Klub Ersatz bekommt. Aber der Defensiv-Allrounder habe zuletzt trainiert wie einer, der in die USA wechseln wolle, ätzte Frings. Und schließlich formulierte er ungeschickt: "Wir können uns nicht schlechter machen, als wir ohnehin sind, nur weil einer sich einen Traum erfüllen will." Mannschaft und Trainer müssen nun schnell beweisen, ob sie der schweren Rückrunde gewachsen sind - die nächsten Gegner heißen Eintracht Frankfurt (auswärts) und Borussia Dortmund.

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