Torsten Lieberknecht bei Darmstadt 98:Trainer für glaubwürdigen Populismus

Torsten Lieberknecht bei Darmstadt 98: Applaus, Applaus: Darmstadts Trainer Torsten Lieberknecht.

Applaus, Applaus: Darmstadts Trainer Torsten Lieberknecht.

(Foto: Uwe Anspach/dpa)

Als Zweitliga-Tabellenführer auf Aufstiegskurs, im Pokal jetzt beim großen Nachbarn Frankfurt zu Gast: Es läuft auf allen Ebenen beim SV Darmstadt 98. Die Mannschaft ist eine gewachsene Einheit - und Torsten Lieberknecht scheint für sie genau der Richtige zu sein.

Von Christoph Ruf, Darmstadt

Fan-Gesänge genügen generell nicht immer den strengen Maßstäben der Metrik. Wenn allerdings "Allez les bleus" auf "Scheiß SGE" gereimt wird, wie geschehen in der Darmstädter Fankurve nach dem jüngsten Ligasieg in Sandhausen, dann muss der Anlass schon ein sehr triftiger sein. In diesem Fall: ein DFB-Pokalspiel beim großen Rivalen SG Eintracht Frankfurt. An diesem Dienstag (Anstoß: 20.45 Uhr) ist es so weit, dann reisen 6000 Darmstädter Fans nach Frankfurt, wo es - bei aller Vorsicht vor übertriebenem Pathos - um mehr geht als um den Einzug ins Pokal-Viertelfinale. In der Frankfurter Nordwestkurve kursierten bereits vor Wochen ziemlich unappetitliche Flugblätter, eine strikte Fantrennung ist für den Dienstagabend eine prima Idee. Für jüngere Fans ist das Spiel ohnehin das Hessenderby schlechthin, denn die in beiden Fanlagern gleichermaßen ähnlich unbeliebten Offenbacher entziehen sich seit 2013 in der Regionalliga Südwest allen Derby-Ambitionen.

Am Freitagabend, nach dem ungefährdeten 4:0 im verregneten Sandhausen, klang bei den Darmstädtern ein ziemlicher Gegensatz durch - zwischen den Fans, die nach dem Pokalspiel lechzen, sowie den Spielern und Offiziellen der "Lilien", die den Ausflug nach Frankfurt nüchterner einordnen . Von einem "Bonusspiel" sprach Routinier Tobias Kempe, der schon 2015 in der ersten Elf stand, als Darmstadt während seiner zweijährigen Bundesligazeit mal 1:0 in Frankfurt gewann. Kempe grinste schelmisch, als ihn ein Journalist an das Spiel erinnerte. Trotzdem schob er recht glaubwürdig nach, dass für Darmstadt "natürlich die Meisterschaft Priorität" habe.

Konzentriert sein, effektiv spielen - genauso werden die Darmstädter von Trainer Torsten Lieberknecht eingestellt. Der ließ folgerichtig durchblicken, dass ihm die Pokal-Kür vergleichsweise egal ist, wenn die Pflicht so attraktiv ist wie ein möglicher Erstliga-Aufstieg: "Ich ziehe den Hut davor, dass wir es geschafft haben, unser tägliches Brot, die Meisterschaftsspiele, mit einer unglaublichen Leidenschaft zu bestreiten", betonte Lieberknecht vorigen Freitag.

Dabei klingt die Metapher vom täglichen Brot deutlich zu freudlos, um Darmstadts Ist-Zustand in der zweiten Liga zu beschreiben: Die Lilien sind Tabellenführer vor dem HSV, mit bereits sechs Punkten Vorsprung vor dem Relegationsplatz und sieben vor dem ersten Nicht-Aufstiegsplatz. Lediglich ein Saisonspiel ging bisher verloren, direkt am ersten Spieltag in Regensburg. Seither blieben die Darmstädter 19 Mal ungeschlagen, sie stellen mit nur 15 Gegentoren die beste Abwehr der Liga und haben im Pokal zuletzt Borussia Mönchengladbach rausgeworfen. Und das sind nur die harten Fakten.

"Tempo, Größe, Erfahrung, da stimmt alles" - sagt der KSC-Trainer über Lieberknechts Team

Wenn Stammkräfte wie Rechtsverteidiger Matthias Bader oder Patric Pfeiffer ausfallen, der sich in Sandhausen verletzte, werden sie scheinbar mühelos ersetzt. Auch eine Komplett-Rotation im Sturm bleibt folgenlos. Weil die Lilien nach wie vor materiell nicht mithalten können, wenn ein Erstligist lockt, verloren sie im vergangen Sommer die Angreifer Luca Pfeiffer (Stuttgart) und Tim Skarke (jetzt bei Schalke). Nun spielen vorne meist Phillip Tietz und Braydon Manu, die prima harmonieren, aber erst zehn Treffer zustande gebracht haben. Deshalb kam gerade noch ein Stürmer hinzu - Filip Stojilkovic vom FC Sion aus der zweiten Schweizer Liga. Der spielte in Sandhausen noch nicht, dafür traf Mathias Honsak nach langer Verletzungspause gleich zwei Mal ins Sandhäuser Tor.

Kein Wunder also, dass die unglückseligen Trainer der Konkurrenz in schöner Regelmäßigkeit durchblicken lassen, für wie unwahrscheinlich sie es halten, dass sich diese Darmstädter den Aufstieg noch nehmen lassen. "Das ist eine total gewachsene Mannschaft. Tempo, Größe, Erfahrung - da stimmt alles", sagte beispielsweise Karlsruhes Coach Christian Eichner: "Und natürlich passt der Trainer wie die Faust aufs Auge."

Es läuft also bei den Lilien, auf und neben dem Platz - und um den Platz herum: Das alte Stadion "Böllenfalltor" war mit seiner steil aufragenden, nicht überdachten Gegengerade lange ein unverwechselbarer Kontrapunkt zu den doch sehr ähnlichen Arenen der Konkurrenz. Während ihrer beiden Erstligajahre konnten die Darmstädter mit ihrem alten Kasten auch bei prominenter Konkurrenz punkten, Pep Guardiola ("in solchen Stadien haben wir alle angefangen") und Christian Streich ("super hier, wie früher") zeigten sich vom Stadion beeindruckt. Geld allerdings ließ sich in der zugigen, logen- und komfortfreien Immobilie nicht ausreichend verdienen. Doch Darmstadt gelang das, was anderswo nur behauptet wird: Auch nach dem Komplett-Umbau ihres Stadions spielen die Lilien in einer engen, lauten, unverwechselbaren Arena. Bei jedem Heimspiel merkt man das 90 Minuten lang, optisch und akustisch.

Auch auf der Funktionärsebene ist der Verein erstaunlich volkstümlich geblieben. Darmstadts Präsident Rüdiger Fritsch duzt gefühlt halb Südhessen, Manager Carsten Wehlmann strahlt die selbe Lockerheit aus, die ihn einst als (Ersatz-) Torwart zu einem der gefragtesten Gesprächspartner beim FC St. Pauli machte. Und mit Lieberknecht wurde im Sommer 2021 ein Trainer geholt, der nicht nur fachlich anerkannt ist, sondern neben all den Old-school- und Laptop-Trainern des Fußballs eine dritte Kategorie darstellt: den "Fan-Trainer". Er sagt: "Niemand ist größer als der Verein, das Sprachrohr schlechthin sind die Fans." Manchem Kollegen würden solche Sätze als billiger Populismus ausgelegt. Lieberknecht aber nimmt man die Sätze ab, nicht nur wegen seiner sehr eindringlichen Mimik dazu.

Als Spieler kickte der Pfälzer Lieberknecht bei dezidiert volkstümlichen Klubs wie Lautern, Mainz und Braunschweig. Die Eintracht trainierte er später unglaubliche zehn Jahre lang am Stück und führte sie zwischenzeitlich in die erste Liga. In Braunschweig wird er deshalb noch heute in der Kurve vergöttert, und in Darmstadt ist das bereits ähnlich. Lieberknecht soll kürzlich gesagt haben, er fühle sich beim hessischen Old-school-Verein so wohl, dass er dort am liebsten noch sehr, sehr lange bleiben würde - ligaunabhängig natürlich. Das schließt baldige Aufstiege ebenso wenig aus wie rauschhafte Pokalerlebnisse in der unmittelbaren Nachbarschaft.

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