Daniil Medwedew:Plötzlich New Yorker

2019 US Open - Day 14

„Die Atmosphäre heute Abend war die beste meines Lebens“: Daniil Medwedew nach dem verlorenen US-Open-Finale gegen Rafael Nadal.

(Foto: Clive Brunskill/AFP)

Der Russe erlebt erstaunliche Wochen bei den US Open. Die Zuschauer, die ihn am Anfang ausbuhten, bemerken irgendwann: Das ist einer von uns.

Von Jürgen Schmieder, New York

Daniil Medwedew hat gegen Rafael Nadal verloren, und er hat doch gewonnen. Als er nach dieser epischen Partie vorgestellt wurde, da erhoben sich die Leute im Stadion und applaudierten einem Tennisspieler, den sie eine Woche davor noch geschmäht hatten. Er hatte sich angelegt mit den New Yorkern, er hatte ihnen den Stinkefinger gezeigt und sie aufgefordert, dass sie beim Einschlafen doch bitte schön an ihn denken mögen. Die Antipathie, welche die Bewohner dieser wundersamen Stadt all jenen entgegenbringen, die es sich mit New York verscherzt haben, sie ist absolut.

Nun hatte er sich nicht nur den Respekt des Publikums erspielt mit einem beherzten Auftritt und durch die Verweigerung der Aufgabe in aussichtsloser Lage. Dabei ist der Russe kein Virtuose wie der Schweizer Maestro Roger Federer und kein Matador-Muskelberg wie Finalgegner Nadal. Er ist groß und dürr, er wirkt bisweilen eher wie ein Mathematikstudent als ein Tennisprofi, und er könnte genau das sein, würde er nicht so gut Tennis spielen. Leute, die ihn sehr gut kennen, beschreiben ihn als hochintelligent, er trainiert seine außerordentliche Hand-Augen-Koordination mit Videospielen und gilt als formidabler Schachspieler. "Er ist ein Genie", sagt sein Trainer Gilles Cervara: "Mit Genies ist es nun mal so: Normale Leute kapieren nicht immer, was in deren Köpfen vorgeht. Sie sind nun mal anders."

Das zeigt sich an Medwedews Art, diesen Sport zu interpretieren: Er spielt Tennis, wie Bobby Fischer Schach gespielt hat; ohne Furcht vor einer Niederlage, trotz unkonventioneller Manöver technisch filigran und taktisch herausragend. Die geschaufelte Rückhand ohne Drall wirkt oft defensiv, ist aber derart präzise, dass sie selbst Nadal verzweifeln ließ. Die Vorhand schwingt er, so wie John Wayne in Westernfilmen den Revolver aus dem Holster gezogen hat. Er streut Slice-Passierschläge ein, unerwartete Stopps, Cross-Schläge in grotesken Winkeln - so wie Fischer seinen Gegnern oft Figuren zum Schlagen angeboten hat, um seine Stellung auf dem Spielfeld zu verbessern.

Wie viele Genies trägt Medwedew sein Herz auf der Zunge, er hat einem Schiedsrichter schon mal Münzen vor den Stuhl geworfen, um ihm Bestechlichkeit vorzuwerfen. "Ich will immer ich selbst sein", sagt er zum Beispiel über diese Partie mit dem Stinkefinger: "Ich sage manchmal schlimme Sachen, die ich nachher bereue, aber ich bin in diesem Moment ich selbst. Ich ändere mich jeden Tag, ich will ein besserer Mensch sein und mich entwickeln - ich will aber immer ich bleiben."

Das führt direkt zu den New Yorkern. Die betonen auch ständig, dass sie sind, wie sie nun mal sind. Sie halten, und darauf sind sie stolz, der Welt gerne den Mittelfinger hin. Sie lassen sich von niemandem was gefallen, und sie werden sich niemals dafür entschuldigen, dass sie sind, wie sie sind. Sie haben Daniil Medwedew beobachtet, und sie haben ihn gnadenlos ausgepfiffen, bis sie gemerkt haben: Der ist gar nicht anders. Der ist genauso wie wir. Er buhlt nicht um Zuneigung, so wie das Novak Djokovic bisweilen tut - er ist einfach nur er selbst. Das respektieren die New Yorker, und wen sie ins Herz geschlossen haben, den behalten sie für immer dort.

"Die Atmosphäre heute Abend war die beste meines Lebens", sagte der 23-Jährige nach dem Finale. Wer ihm in den vergangenen Wochen begegnet ist, hat einen höflichen, humorvollen Typen getroffen, dazu passen seine Aussagen nach dem Finale. Über den Rückstand im dritten Satz: "Ich habe überlegt, was in aller Welt ich nach so einer Lektion hätte sagen sollen - da habe ich lieber noch mal gekämpft." Über die Momente nach der Partie: "Als sie all die Titel von Nadal auf der großen Leinwand gezeigt haben, habe ich mich gefragt: Was hätten die gezeigt, wenn ich gewonnen hätte?" Vielleicht wird diese Frage schon 2020 beantwortet.

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