Curling bei Olympia:Faszinierende Fenster zur Seele

Britain's Sloan shouts to teammates during their women's curling round robin game against Russia at the 2014 Sochi Winter Olympics

Die britische Curlerin Anna Sloan bei der Arbeit - wer dazu frühstückt und dahindöst, macht nichts falsch.

(Foto: REUTERS)

Welcher Sport würdigt die Individualität aller Wesen mehr als Curling? Allein wenn John Jahr jr. jr. oder die blauäugige Anna Sloan übers Eis gleiten, ist das eine Feierstunde für Gesichter-Fans - den wunderbaren Curlern zuzuschauen, bedeutet runterzukommen im stressigen Fernsehalltag.

Von Holger Gertz, Sotschi

Curling, die Leute reden dauernd von Curling. Außerhalb von Olympia reden nur Aficionados davon, aber jetzt praktisch alle. Woher kommt das? Curling funktioniert in Zeit und Raum, Curling ist ein bisschen wie "Dinner for one". Man könnte sich das jederzeit auf DVD anschauen, also auch im Hochsommer bei 30 Grad, kein Mensch würde das natürlich tun. "Dinner for one" geht nur an Silvester; in "Dinner for one" verbindet sich das Unersetzliche für den Moment mit dem allgemein Vernachlässigenswerten. So ähnlich ist es mit Curling.

Wer würde sich einen Wettkampf in der Curling-Bundesliga antun? Im Olympiaprogramm aber sind die Curler - als kontemplatives Element - Teil des Gesamtevents Olympia, Skifahren, Langlaufen, Eislaufen, und wenn der Fernseher mal läuft, dann läuft er. Alle sehen also den Curlern zu, am Fernseher oder hier im Ice Cube von Sotschi, und der Effekt ist da wie dort derselbe: Die Curler zu sehen, bedeutet, ein bisschen runterzukommen.

Curling ist bestimmt gut für den Blutdruck, man müsste Ärzte fragen. Natürlich ist es ein Wettbewerb, die Steine müssen am Ende richtig liegen, und die anderen Steine, die Steine des Gegners, müssen dafür rausgeschubst werden. Auch Curling ist kein Ponyhof. Aber der Verdrängungskampf vollzieht sich angenehm zivilisiert, die meiste Zeit passiert nichts, dann stehen die Curler auf der Eisbahn und reden und machen sich schwere Gedanken, das sieht sehr intellektuell aus.

Sie diskutieren die Spur der Steine; bereits verwehte Spuren oder Spuren, die noch gelegt werden wollen. Die zweitmeiste Zeit sind die Steine unterwegs, das Verdrängen der Steine schließlich ist entscheidend, nimmt aber nur einen kleinen Teil des Gesamtsettings in Beschlag. Keiner macht mit dem Besen obszöne Gesten, wenn er gewonnen hat; keiner imitiert im Triumphgefühl einen urinierenden Hund, wie das beim Fußball inzwischen manchmal passiert.

Curling ist wie gemacht fürs Fernsehen, denn auf den Bildschirmen in der Halle wie auf dem Flatscreen zu Hause kann man Menschen kennenlernen, die konzentriert sind wie sonst nur die Kandidaten bei "Wetten, dass..?". Man kann Physiognomien studieren, Gesichter betrachten, das ist eine Seltenheit inzwischen. Die meisten anderen Sportler haben Helme auf, man sieht die Gesichter kaum oder nur verschattet, und auch sonst ist das Gesicht im Fernsehen ein verblassender Mythos.

Früher, nicht nur bei Derrick, widmete die Kamera sich den Gesichtern in Ausführlichkeit. Der Kommissar sagte etwas scheinbar Unverfängliches, "naja, dann sind wir hier wohl fertig, halten sie sich gegebenenfalls zu unserer Verfügung", und dann ging er ab. Die Kamera blieb noch auf dem Gesicht des Verdächtigen, zoomte es heran - meistens war es das Gesicht von Sky du Mont.

Man konnte in dem Gesicht lesen, das Gesicht erzählte die Geschichte wortlos weiter. Fuck the hell, sagte das Gesicht, wie komm' ich aus der Nummer wieder raus? Heutzutage ist der schnelle Schnitt eine Art Zauberformel für eine gelungene Fernsehproduktion, die Kamera ruht nicht.

Gerahmt von besenführenden Wischerinnen

Curling ist dagegen eine Feierstunde der Gesichter-Fans, welcher Sport würdigte die Individualität aller Wesen mehr als dieses Curling? Man wird in die Lage versetzt, Koreanerinnen voneinander zu unterscheiden, die im Auge des Europäers sich ja oft zum Verwechseln ähnlich sehen. Dabei schickt Gim Un-chi zum Beispiel den Stein unbewegt auf die Reise; unmöglich, in ihrem Gesicht schon zu erkennen, wohin diese Reise geht, Gim Un-chi ist ein Pokerface mit hochgestecktem Haar.

Kim Ji-sun dagegen begleitet den Stein mit Schreien. Ihr Ausdruck hat etwas Leidendes; er verändert sich, da ist ein Dreikampf von Konzentration und Verzweiflung und Zuversicht. Und die Kamera ist geduldig genug, den Verlauf dieses Kampfes zu dokumentieren, sie bleibt lange auf einem südkoreanischen Frauengesicht, gerahmt von besenführenden Wischerinnen.

Augen übrigens sind angeblich das Fenster zur Seele, und auch, wenn man natürlich nichts weiß über die Seele der Curler und Curlerinnen: Wo sieht man sonst noch Augen, welche Augenfarbe hat Messi, der Hacklschorsch, wie sind eigentlich die Augen von Maria Riesch? Die Augen der Curlerin Anna Sloan, startend für Großbritannien, sind mindestens so blau wie die Werbeplanen überall im Olympiapark, das Blau inspiriert die Zuseher zu Gedichten, die sie via Twitter in die Welt hinausschicken, unter dem Hashtag #ilovecurling zum Beispiel.

Ein User namens Billy Smith schreibt, astreiner Poesiealbum-Stil übrigens: Your jacket is red, your eyes are blue - Anna Sloan, can I go out with you?" Rv_Seb21 schreibt: "Waking up seeing your blue eyes looking at me." Ein Vorteil, dass die Curler immer so früh auf die Bahn gehen, da kann man die Bilder aus dem Frühstücksfernsehen für Traumsequenzen halten.

Am Mittwoch finden die Semifinals statt, es geht auf die Entscheidung zu, aber wer hätte eigentlich die gerade in Sotschi sehr strapazierte Formel "Gesicht zeigen" entschiedener verteidigt als die Curler, Sieger und Besiegte; Frauen und Männer. Beim hervorragend frisierten deutschen Skip John Jahr jr. jr. - leider bereits ausgeschieden - werden die "hammer blauen Eisaugen" schon auch gewürdigt, aber wer Gesicht zeigt, muss damit leben, dass derjenige, dem er es zeigt, aufs Nebengleis oder Nebeneis geleitet wird.

Lieblingstweet zu John Jahr, verfasst von @Fabinh0: "Auch wenns mit dem Curling-Olympiasieg nix wird, kann er sich berechtigte Hoffnung auf eine Anstellung als Wella-Testimonial machen."

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