Süddeutsche Zeitung

Cricket:Mehr als ein Sport

Das Cricketteam des TSV Lengfeld aus Würzburg hilft Flüchtlingen, ihre Vergangenheit zu bewältigen - obwohl der Gründer vorher niemals etwas mit Cricket zu tun gehabt hat.

Von Sebastian Leisgang

Mittlerweile, nach etwa vier Jahren, ist auch Wolfgang Merz im Thema, zumindest ein bisschen. Er kann erklären, was die Grundidee dieses Spiels ist, er versteht, worauf es ankommt - "und ich habe auch gelernt, dass man immer auf den Ball schauen muss", sagt Merz, steht auf, läuft zu einem Tisch, den er in seinem Garten aufgestellt hat, und kommt mit zwei Bällen zurück. Dann sagt er: "Es tut richtig weh, wenn man so einen Ball gegen den Kopf bekommt."

Es ist ein lauwarmer Nachmittag, für den Würzburger Stadtteilverein TSV Lengfeld ist die Cricket-Saison seit ein paar Wochen vorbei, und Merz sitzt in einem Stuhl hinter seinem Haus. Der 68-Jährige hat etwas Onkelhaftes an sich, er ist ein redseliger, gemütlicher und offener Mann, sein kariertes Kurzarmhemd ist nur bis zur Brust zugeknöpft. In all den Jahren, sagt Merz, habe er einiges aufgeschnappt, jetzt könne er mitreden, wenn es um Cricket geht. "Am Anfang wusste ich nicht mal, ob Cricket mit C oder mit K geschrieben wird. Was soll ich denen da beibringen?", fragt Merz und schaut zu Isakhan Zazai und Ahmadsier Sadat, zwei seiner Spieler, die am anderen Ende des Tisches sitzen. Merz, kann ihnen nichts beibringen. Nicht Zazai, dem Kapitän der Mannschaft, schon gar nicht Sadat, dem besten Werfer, den es in Lengfeld gibt.

Merz versteht nicht allzu viel von Cricket. Im Grunde versteht er generell nicht allzu viel von Sport. Bei seinen jährlichen Rennradtouren quer durch Europa ist er derjenige, der mit dem Kleinbus vorausfährt, den anderen Fahrern an Gabelungen den Weg weist, Kaffeepausen an der Strecke organisiert und Unterkünfte bucht, während andere in die Pedale treten. Warum gründet einer wie er ein Cricket-Team und verschreibt sich einer Sportart, mit der er nie zuvor etwas zu tun hatte?

Um das zu verstehen, muss man zurück zu den Anfängen gehen, ins Jahr 2015, in die Zeit, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Damals kümmerte sich Merz um eine afghanische Familie, die in der Lengfelder Turnhalle untergebracht war. Hin und wieder fuhr er sie mit seinem Auto zu Terminen.

So ging es los. Bis heute hilft Merz, wann immer er kann. Er ist Ansprechpartner in jeder Lebenslage, bei rechtlichen Fragen, bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, bei Umzügen. Die Beziehung zu seinen Spielern sei "sehr intensiv", sagt Merz. Kurze Pause, dann wiederholt er: "Sehr intensiv."

Merz hat sich auf das Interview vorbereitet. Er hat einen Pokal auf den Gartentisch gestellt, Bälle bereitgelegt, Trikots und einen Ordner, in dem er einige Zeitungsartikel aufbewahrt. Das Treffen hat Merz sehr kurzfristig möglich gemacht, er ist ja froh, wenn er mal Gehör findet und überhaupt etwas über Cricket in der Zeitung steht. "In Afghanistan ist der Sport groß, so groß wie Fußball hier", sagt Merz, "aber bei uns bleiben höchstens mal ein paar Fahrradfahrer beim Spiel am Zaun stehen, wenn sie zufällig vorbeifahren. Nach ein paar Minuten fahren sie dann weiter, weil sie nicht verstehen, wie das Spiel funktioniert."

Am anderen Ende des Tisches nimmt Zazai einen der beiden Bälle in die Hand. Dann erklärt er, worauf es beim Cricket ankommt, was diesen Sport ausmacht und wie das geht: den Ball mit Schnitt zu werfen, ihn mit dem Schläger sauber zu treffen. Zu Beginn des Gesprächs ist Zazai noch etwas reserviert, dann aber erzählt er recht freimütig. Auch, wie schmerzvoll es ist, dass sie immer wieder Teamkollegen verlieren, weil diese abgeschoben werden oder weil sie in einem anderen Land eine bessere Perspektive für sich sehen. Anfangs hatte Lengfeld 45 Spieler, jetzt sind es weniger als halb so viele. "Das tut weh", sagt Zazai, "wir sind alle Freunde, und manche sind dann über Nacht einfach weg."

Für ihn und die anderen Flüchtlinge ist Cricket weit mehr als Sport - es ist eine Therapie. Das Spiel hilft ihnen, die traumatische Vergangenheit in ihrer vom Krieg gezeichneten Heimat zu bewältigen und sie zumindest für eine gewisse Zeit auszublenden. "Wenn wir spielen, geht es nur darum, zu gewinnen", sagt Zazai.

Als er erzählt und erzählt, bekommt man ein Gefühl dafür, wie viel Cricket ihm bedeutet, wie sehr es ihn fasziniert und welch große Anziehungskraft es auf ihn ausübt. Und vermutlich ist es das, was auch Merz antreibt. Zu spüren, wie Cricket Zazai und den anderen hilft. Dafür muss er den Sport nicht durchdrungen haben - er, der für die Spieler, so sagt es Zazai, "wie ein Opa" ist, muss seinem Team bloß zusehen, wenn es spielt.

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Quelle:
SZ vom 15.10.2020
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