Süddeutsche Zeitung

Rudern:Die Attraktion muss endlich aufs Wasser

Der Deutschland-Achter ist eine Instanz, wenn es um olympische Medaillen geht - das Zusammenspiel der Ruderer bedarf viel Übung. Die Pandemie macht nun alles noch komplizierter.

Von Volker Kreisl

Alles muss locker und leicht aussehen. Die Arme brennen, die Oberschenkel sind schwer wie Blei, die Lunge ist leer, das Herz hämmert, das Laktat lähmt, aber alles muss schön leicht aussehen. In einer geschmeidigen, fließenden, aufeinander abgestimmten Form müssen acht einzelne Ruderer zu einem Gesamtkörper verschmelzen, der scheinbar mit Leichtigkeit übers Wasser fliegt.

Nur, so schnell wird diesmal nichts fliegen. Auch wenn vor ein paar Tagen endlich das Training begann, so darf der Deutschland-Achter, der eigentlich Neuner heißen müsste, weil auch Steuermann Martin Sauer darin sitzt, wegen der Pandemie nur unter Abstandsregeln trainieren. Man ist aufgeteilt in vier Zweierboote, und Sauer muss noch an Land bleiben. Die Riemen-Ruderer steigen am Stützpunkt in Dortmund nach der Ankunft quasi direkt ins Boot und duschen nach dem Training zu Hause. Wie lange das dauert, und wann das Team wieder in Topform kommt, weiß gerade niemand.

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Klar ist jedenfalls, dass der Achter zu den Attraktionen des olympischen Sports in Deutschland zählt. Das hängt zunächst damit zusammen, dass ein Ruderboot, das mit Mensch und Material eine ganze Tonne wiegt und dennoch leicht dahin zischt, für sich schon spektakulär wirkt. Vor allem aber war der Deutschland-Achter bei den Großveranstaltungen meistens eine Instanz, besonders in den vergangenen 20 Jahren. Bis auf Olympia 2008 in Peking landete das Boot fast immer auf Medaillenrängen, in London holte es Gold, in Rio wurde es Silber, dazwischen lagen serienweise WM-Titel.

Das hat damit zu tun, dass das Boot von Achter-Bundestrainer Uwe Bender und dessen Vorgängern, darunter der heutige Chefcoach des Deutschen Ruderverbands, Ralf Holtmeyer, stets Kraft und Technik mitbrachte. Vor allem aber perfektionierte es sein Zusammenspiel. "Der Achter ist ein organisches System", sagt Holtmeyer. Das klingt nach Biologie, und tatsächlich kann man vielleicht einen Apfelbaum vor Augen haben, der im Frühling erwacht und nach dem exakt abgestimmten Plan der Natur im Herbst pünktlich und zuverlässig Früchte trägt, so wie die Achtermannschaft ihre Medaillen - meistens aus Gold, auch zuletzt bei den Weltmeisterschaften 2017, '18 und '19.

Jetzt allerdings torpediert die Pandemie alle Pläne, auch den immer gleichen Sechs-Monatsplan der Ruderer. Die Olympischen Spiele finden nun erst in 15 Monaten statt, die Ruderer aber dürfen nicht einfach länger aussetzen, sie müssen endlich aufs Wasser, jetzt sofort, weshalb die Trainer vor der interessanten Aufgabe stehen, einen Obstbaum zu pflegen, der zwar pünktlich im Herbst reif sein soll, aber bitte erst im nächsten Jahr.

28 Beziehungen im Boot - damit der Achter flüssig fährt, muss jeder auf jeden achten

"Keiner hat Erfahrung mit so einer Situation", sagt Holtmeyer, und die Deutschen eben auch nicht. Kraft und Ausdauer und die richtige Technik mit dem Ruderblatt, all das lässt sich auf dem Ergometer oder in Trainingsläufen, auch in kleineren Booten, wohl schneller erneuern und abrufen. Schwieriger wird es mit dem organischen System, dem automatischen Gleichtakt, der sich nicht nur auf den heimischen Übungskanälen entfaltet, sondern vor allem unter Druck, in Wettkämpfen, von denen es aber in diesem Sommer keine geben wird.

Martin Sauer, der Steuermann, hat von seinem Sitz im Heck den besten Überblick über dieses System. Sein Job ist es, während des Rennens nicht nur den eigenen Takt, sondern auch die Gegner im Blick zu behalten und zur Attacke zu rufen, wenn zum Beispiel die Siegkonkurrenten schon erschöpft wirken. Sauer sagt, jeder seiner Ruderer stehe mit jedem im Boot in einer bestimmten Beziehung, was man daran merke, dass sich alles ändert, wenn nur eine einzige Stelle neu besetzt wird: "Dann müssen sich nicht nur sieben andere auf den neuen Ruderer umstellen, sondern auch die alten untereinander."

Rudert zum Beispiel der Neue im Mittelschiff etwas kräftiger, muss der Hintermann mitziehen, wodurch wiederum dessen Hintermann im Bug plötzlich etwas mehr als sonst ausgleichen muss, damit das Boot nicht schwankt, wobei der aber auch den Riemen sechs oder sieben Stellen davor im Auge behalten muss, wenn er selber das Ruderblatt eintaucht. Umgekehrt müssen auch Schlagmann Hannes Ocik, der im Heck den Takt bestimmt, und der Zweite dahinter, der den Schlag weitergibt, ein Gefühl für Stärken und Schwächen der Kollegen in ihrem Rücken entwickeln, so wie alle anderen auch.

Acht Ruderer, 28 Beziehungen. Tausende Kilometer gemeinsames Training. Etliche Diskussionen und Streits über Nuancen in der Taktik. Und das Ziel: ein perfektes Boot. Alles spielt sich ein, so lief es immer, aber nun liegen unbekannte Gewässer vor dem Achter, und man sucht nach dem richtigen Kurs.

Holtmeyer sagt, es werde noch dauern bis ein genauer Plan für die kommenden 15 Monate gefunden ist. Diverse Ansätze kommen in Betracht, alle haben ihre Nachteile. Man könnte etwa so tun, als sei 2020 ein Wettkampfjahr, gerungen wird intern um die Plätze im Boot, im Oktober gibt es eine Medaille bei der EM in Polen, dann trifft man sich wie immer im Spätwinter. Oder man entspannt im Corona-Jahr 2020, hakt es ab und konzentriert sich auf 2021. Realistischer jedoch dürfte eine Art Streckmethode sein. "Man könnte den Sommer als verlängerten Winter benutzen", überlegt Holtmeyer. Danach würde im Herbst der eigentliche Sommeraufbau folgen, in der Hoffnung, dass die Ergebnisse über die Winterpause anhalten und die Taktung des Teams 2021 vollendet wird, in den Weltcups bis Olympia im August.

Den Sommer als Winter begreifen, den Herbst als Sommer, den Winter als Herbst - und im Frühjahr dann fit sein: Das hieße, sich in eine Parallelzeit zu begeben, den biologischen Rhythmus auszutricksen, die Natur zu überlisten. In Zeiten, in denen Medaillen 15 Monate reifen müssen, könnte dieser Kurs zu Gold führen.

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Quelle:
SZ vom 30.04.2020/ska
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